98 - Weiterreise

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Abwechselnd sah Lorsan in den Wald und den Himmel. Wartete auf die Tiere und hing in Gedanken bei der Prinzessin. Natürlich hatte er sie schon einmal gesehen. Damals waren beide noch Kinder. Sie hatten sich nichts dabei gedacht, durch den Garten des Palasts zu laufen. Es war auch Sylvana, die Feder gefunden hatte. Das Küken, kaum stark genug ohne die Eltern zu überleben, lag am Boden, rief um Hilfe. Es war die Prinzessin, die es zuerst gehört hatte, auf die Stelle zugerannt war und fast den Vogel zertreten hätte. Sie hatte ihn zu sich gewinkt, auf das kleine, einsame Wesen gezeigt und gesagt: "Schau, der hat auch keine Familie mehr. Genau wie du."

"Lorsan?" Er reagierte nicht auf die Stimme, aber sie klang genau wie damals. "Dann antworte halt nicht. Aber ich will dir trotzdem was sagen. Ich kann akzeptieren, dass du einer Fremden, die behauptet deine Schwester zu sein, nicht erzählen willst, woher du kommst. Aber vor unseren Eltern, nein, vor allem vor dem König wirst du das müssen. Wenn wir dich früher gefunden hätten, dann wäre vielleicht einiges anders gekommen. Wenn jemand auf unsere Bitte um Hilfe reagiert hätte."
"Ihr nennt ihn König?" Unbewegt achtete er auf den Himmel. Dicke Wolken zogen auf und der Wind wurde kälter. Kaum hörbar erreichten ihn Worte, die nicht zum Lager oder der Prinzessin gehörten. Worte, die er irgendwann gelernt hatte auszublenden. "Nein, das geht mich nichts an. Verzeiht."
"Das geht dich etwas an." Sie schnaubte, übertönte den Wind. "Du bist immerhin auch ein Teil dieser Familie. Du bist der Thronfolger dieses Landes. Wer auch immer dich von dieser Aufgabe abgehalten hat wird das bezahlen. Immerhin hat er mich auch in eine unschöne Lage gebracht."
"Ich bin nicht Euer Bruder,  Prinzessin. Und auch nicht Teil der Königsfamilie. Ich bin nur ein Heiler auf Reisen, versteht Ihr endlich? Ich möchte nichts weiter, als irgendwo in einer Hütte in einem Wald leben. Nur die Natur um mich herum. In Frieden, bis ich sterbe."
"Einsam und ohne jeden Kontakt? Bei uns nennt man sojemanden Silberhexe. Sie leben einsam in den Wäldern, kommen nur gelegentlich heraus um ein Kind zu stehlen. Viele davon werden dann gejagt, aber man findet sie nicht. Es ist, als würden sie von den Wäldern beschützt, die sie ihrerseits am Leben erhalten."
"Wer weiß. Am Ende habe ich genau so meine Familie verloren. Und diese Silberhexen sind tatsächlich nur Sklavenhändler." Lorsan legte die Hand über den versteckten Anhänger. Er wollte die Prinzessin eigentlich nicht belügen. Er sollte nicht lügen, darum hatte die Königin ihn schon seit frühester Kindheit gebeten. Er verbarg Wahrheiten, ja, aber nie hatte er absichtlich das Gegenteil der Wahrheit erzählt. "Und in Mida haben sie mich an die nächstbeste kinderlose Familie verkauft." Eine schöne Geschichte, wenn sie nicht frei erfunden wäre. 

"Es gab eine Aufstand einiger lokaler Fürsten gegen den König. Sie wollten das Königshaus abschaffen, damit sie das Land besser unter sich aufteilen konnten. Eines Nachts kamen Fremde in die Burg. Du wurdest entführt und bis wohl so nach Mida gekommen."
"Wäre ich Euer Thronfolger, hätte man mich kaum am Leben gelassen, denkt Ihr nicht?"
"Mutter hat es gehofft. Und auch viele andere. Auch Fremde haben davon gehört. Reisende, die die Geschichte weitergetragen haben. So kamen die ersten Hochstapler in die Burg. Aber ihre Tarnungen und Geschichten waren schlecht. Je länger du verschwunden warst, umso schwerer wurde es für Mutter die Hoffnung zu verbreiten. Trauer fraß sich in ihr Herz und sie wurde krank. Und mit ihr auch das Land. Der Wald begann kleiner zu werden, die Wölfe verschwanden. Wild wurde krank und die Finsterlöwen verbreiteten sich im Land."
"Vielleicht hättet Ihr mit der Krankheit Eurer Königin anfangen sollen Prinzessin. Ich habe einmal versprochen, jedem zu helfen, der Hilfe braucht. Das wäre also durchaus ein Grund, Euch in die Stadt und auch zur Königin zu begleiten. Aber..." Er schloss die Augen. Was, wenn das Königspaar ihn tatsächlich erkannte? Würde es dann überhaupt möglich sein, wieder in die Schatten zurück zu kehren? "Aber von nun an nur noch, wenn Ihr mir schriftlich versichert, dass ich nach getaner Arbeit, ob ich Erfolg habe oder nicht, wieder gehen kann. Dass ich nicht verfolgt und gejagt werde. Und dass das gleiche für Anavi gilt."
"Du... willst es wirklich nicht akzeptieren?" Die Prinzessin klang niedergeschlagen, aber es war keine Frage. "Schön, dann schriftlich. Aber damit bringst du mich in eine komplizierte Situation."

"Ich interessiere mich nicht für Eure Probleme, Prinzessin. Ich habe keine Verantwortung gegenüber diesem Land." Er drehte den Kopf, sah zu ihr. Viel zu entspannt lehnte sie an der Wand des nächsten Gebäudes. Die grünen Augen sahen weder in den Wald noch zu ihn. Sie schien etwas zu beobachten, das sich ihm entzog. "Ich will diese Verantwortung auf nicht tragen, egal was passiert."
Sylvana nickte. "Ich verstehe. Ich würde ja Königin werden, wenn unser Vater es zulässt. Aber das wird er nicht. Darum das Versprechen. Es wird der König, der meinen Bruder zurückbringt. Und mein Mann."
"Dann wurde dieses Versprechen sicher nach Eurer gescheiterten Verlobung mit Prinz Respen gegeben." Wenn er darüber nachdachte und seine Informationen sortierte, dann hatte Ricimer die Verlobung gelöst. Wenn er damals schon eine Ähnlichkeit erkannt hat und wusste, aus welcher Familie Lorsan stammte, wollte er vielleicht nicht, dass man ihm Vorwürfe machte, ihn entführt zu haben. Oder er brauchte ein Druckmittel, falls Jona sich einmal gegen ihn erheben würde. Was war dafür besser geeignet, als deren Thronfolger.

"Wurde es." Sie klang zweifelnd. "Woher weist du von der Verlobung? Davon sollte nur die Königsfamilie wissen. Bist du..."
"Angestellte reden. Außerdem war es ein offenes Geheimnis, dass der König die Verlobung gelöst hat. Ganz Mida weiß davon und lacht über die Prinzessin, die nicht gut genug für den Hof war." Zumindest das war die Wahrheit.
"In welcher Familie warst du nochmal?"
Dazu hatte er geschwiegen. "Keine große oder einflussreiche Familie. Ein kleiner Landadel mit Ambitionen zum Hof zu kommen und aufzusteigen."
"Hast du Geschwister? Wie viele und welche Namen?"
Lorsan sah zurück zum Wald. "Rosalinda, meine ältere Schwester und einen Bruder, Ricinis. Rosa hat mich auch unterstützt, diese Reise zu machen." Auch das waren keine Lügen. Nur nicht die ganze Wahrheit. Rosalie hatte ihren Namen verändert, nachdem sie das Land verlassen hatte und einer von Respens weiteren Namen ist tatsächlich Ricinis.
"Verstehe. Dann war wenigstens eine für dich da." Die Prinzessin sah zurück zum Lager. "Ich mache dein Schreiben fertig. Für deine Begleitung auch, falls ihr getrennt werdet. Später gibt es noch Essen. Komm nicht zu spät."
"Kann ich selbst kochen? Kein Vorwurf gegen Eure Köche, aber das Essen war schrecklich."
"Nur wenn du mir auch was machst." Sie lachte noch, dann entfernten sich ihre Schritte. Beim anschleichen hatte sie sich mehr Mühe gegeben.

Der verlorene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt