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Die Pferde standen bereits bei Lorsan, als Anavi ihn vor dem Lager suchte. Donner war nicht schwer zu entdecken. Das schwarze Fell stach zu sehr aus dem Wald hervor. Gerade auf offenen Lichtungen wie dem Lager. Sun und Sur waren noch nicht zu sehen. Vielleicht warteten sie noch im Schatten der Bäume.
Vorsichtig setzte sie ihre Schritte und schlich sich an. Überraschend wollte sie Hände auf seine Schultern legen, ihn erschrecken. Der Heiler zuckte jedoch nicht und enttäuscht trat sie zu Hylia, die genauso ungerührt am spärlichen Gras vor ihren Hufen zupfte. "Dich kann man nicht erschrecken, oder?" Anavi strich der Stute über den Hals und nahm dabei die Zügel wieder auf. Es überraschte sie schon, dass die Pferde so bereitwillig zurückgekommen waren. Andererseits hatte sie auch Lorsan gehört, wie er spät nachts mit Feder gesprochen hatte. Sogar diskutiert, wenn sie sich richtig erinnerte.
"Bisher hat es noch niemand geschafft." Feder krächzte zustimmend von seiner Schulter und flatterte auf. Er suchte sich einen neuen Sitzplatz auf Donners Sattel. "Bist du etwa nur deswegen hergekommen?"
"Es hat sich angeboten." Anavi zog einen Brief aus dem Innern ihrer Jacke und reichte ihn dem Heiler. "Das hat mir die Prinzessin gegeben. Ein Versprechen, sagte sie. Außerdem gibt es bald Essen. Diesmal ist es besser, versprochen."
"Danke." Lorsan faltete das Papier auf. Stumm starrte er auf die Worte und steckte es ein. Die zweite Seite gab er Anavi zurück. "Wenigstens hat sie das wirklich gemacht."

"Darf ich fragen, was das für ein Versprechen ist?" Hylia hob den Kopf und stupste sie an. Das Apfelstück musste sie sich von dem Heiler reichen lassen, weil ihre eigenen Vorräte an Pferdebelohnungen aufgebraucht waren.
"Ein Schreiben, das uns freie Reise garantiert, wenn wir die Stadt und den Königssitz verlassen wollen. Für Notfälle."
"Du denkst, sie könnten uns gefangenhalten."
Lorsan nickte und begann nachdenklich in Donners Mähne ein paar Strähnen zu flechten. "Ich habe der Prinzessin zugesagt, sie in die Stadt zu begleiten. Die Königin dieses Landes ist krank und ich will sehen, ob ich ihr helfen kann. Für den Fall das ich keinen Erfolg habe, will ich nicht länger als nötig dort bleiben. Es wäre... nicht sicher."
"Ich kann zwar nur die Vergangenheit sehen, aber deine Sorgen kann ich nachvollziehen. Arus kommt nicht aus Jona, erinnerst du dich? Aber er hat kein Wort darüber verloren, ob er schon einmal der Königin helfen wollte."
"Genau darum." Eine weiße Feder fand ihren Weg in das Flechtwerk, wo auch immer der Heiler die her hatte. Ganz still hielt der Hengst und ließ seinen Reiter arbeiten.
Sie beobachtete die beiden einen Moment. "Habe ich dich je gefragt, wie die Tiere zu ihren Namen gekommen sind?"

"Ich war ein Kind und musste einem Vogel einen Namen geben. Was liegt da näher als Feder." Er lachte leise. "Donner hast du noch nie im vollen Galopp erlebt. Seine Hufe auf dem Boden klingen dann wie Donner, der die Luft zerreißt. Und die Wölfe... die Namen Sunir und Surik habe ich einmal in einer Legende gelesen. Ich dachte mir, dass es passend ist."
"Sunir und Surik?" Anavi sah in den Wald, konnte die Wölfe aber immer noch nicht entdecken. "Hast du die Namen einfach gekürzt?"
"Gewissermaßen. Sie hören auf die Abkürzungen und ihre Namen. Aber außer Rosa, der Königin und mir kennt niemand die ganzen Namen. Und jetzt auch du."
"Das sind nicht viele. Heißt das, du hast ein so großes Vertrauen in mich?" Sie legte den Kopf an Hylias Hals, ließ ihn jedoch nicht aus den Augen. "Ist mir eine Ehre."
"Nein. Also, nicht ganz. Es gab nur selten einen Grund, jemandem das zu sagen. Wie kamst du eigentlich darauf, die Stute Hylia zu nennen?"
"Du erinnerst dich doch sicher an unseren ersten Ausflug in die Stadt, kurz vor dem Fest. Als wir in dem Tempel waren, hat der Priester gerade etwas über diese Prophetin erzählt." Die Prophetin des Sonnengottes Hylia, die dem ersten König diente und später zur Königin aufstieg. Sie soll es gewesen sein, die das Wappen des Löwen mit der Sonne eigenhändig gewebt hat.
"Hymnia? Du hast wohl einen Namen verwechselt." Lorsan drehte sich lachend zu ihr und präsentierte die fünf geflochtenen Zöpfe in der Mähne. Entweder Blumen, Blätter oder Federn waren dazwischen eingewebt. "Aber ich denke nicht, dass sie es dir übel nimmt."
"Hymnia..." Sie hatte tatsächlich den Namen vergessen. "Das ist... peinlich."
"Muss es nicht. Das passiert. Ich kenne auch nur wenige Namen der Götter und Propheten. Dafür kann ich dir leider sämtliche Prinzen von Ming aufzählen. Nach Alter sortiert. Und das sind viele."
"Es war sicher nicht leicht alle Erwartungen zu erfüllen, oder? Immerhin hätte es die Möglichkeit gegeben, dass du eines Tages König wirst." Anavi streichelte ihre Stute, den Blick hielt sie auf einen unsichtbaren Punkt gerichtet. Am Ende wäre Lorsan der beste König für Mida gewesen.

"Das ist auch ein Grund, warum ich Heiler wurde." Er hatte mit dem nächsten Zopf begonnen. "Falls es Respen einmal schlecht gehen sollte, wollte ich ihn retten können. Ich bin froh, dass wir vorher gehen konnten. Ich wollte auch nicht die Eule anführen, obwohl sie es mir oft genug angeboten hatten. Mir ist es lieber, wenn man mich nicht kennt."
"Es ist sicherer." Anavi nickte und trennte drei Strähnen von Hylias Mähne ab. "Ich glaube, das hast du schon gesagt. Nur leider kennt dich jetzt die Welt. Nicht nur wegen Respens Offenbarung an seinem Geburtstag, auch wegen dieser... Flugblätter. Wer weiß, wie weit sie schon verbreitet sind."
"Hoffentlich holen sie uns nicht ein. Respen kann uns nicht den Rest unseres Lebens verfolgen."
Ihr kam dabei ein Gedanke. "Auch wenn du es nicht willst, wäre es nicht sicherer, wenn du wirklich der Prinz bist? Er kann schlecht einen anderen Thronfolger verfolgen lassen."
"Können schon. Aber es bedeutet Probleme. Gerade für Mida. Über die Berge kann keine Armee wandern, sollte es zum Krieg kommen. Das heißt, wer Ming auf seiner Seite hat gewinnt. Und Mida wird da schlechte Karten haben."
"Außer sie nehmen den Weg im Westen. Warn und dieses namenlose Land." Ihr Blick richtete sich in die Ferne. Ein Land umhüllt von dunklem Nebel. Respen würde das sicher nicht aufhalten, wenn er seinen Bruder so sehr zurück wollte. "Er würde diesem Weg nehmen..."

Der verlorene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt