Spätestens jetzt wusste Anavi, dass dies nicht ihre Erinnerungen waren. Sie betrachtete staunend den Palast von Mida aus der Ferne, während die Kutsche über das Pflaster rollte. Lady Mina saß ihr gegenüber, das Gesicht halb hinter einem Fächer verborgen.
"Endlich hat dieser ganze Unsinn eine Ende." Sie fächerte sich Luft zu, als die Kutsche in ein verlassenes Viertel einbog. "Vergiss nicht deine Aufgabe, Gör. Diese Prinzen ruinieren unsere Geschäfte. Sieh zu, dass du sie loswirst."
Anavi nickte und wandte den Blick wieder ab. Diese verlassenen Gebäude kannte sie. Ganz in der Nähe musste das Versteck sein, bei dessen Angriff sie Lorsan begleitet hatte.
Die Kutsche hielt und Anavi sprang auf die Straße. Lady Mina ließ sie jedoch nicht allein und zerrte sie in eines der Häuser.
Auf Straßenebene sah es verlassen und halb verfallen aus, hinter der Treppe, die in den Keller führte herrschte jedoch reges Treiben. An den Wänden saßen Frauen, Männer und Kinder, den Blick zu Boden gerichtet, die Hände gefesselt und an der Wand festgebunden.
"Lady Mina, nicht wahr? Eine Freude, Euch kennenzulernen." Ein Mann in Schatten kam auf sie zu. "Und das ist unser Spion? Gute Ware."
Wie auf dem Markt tastete er ihre Arme ab, drückte ihren Mund auf. "Sehr überzeugend. Und sie spricht nicht?"
"Noch kein einziges Wort. Aber stumm ist sie nicht. Sie kann schreien." Lady Mina übergab sie an den Mann. "Morgen soll der Angriff beginnen. Seht zu, dass sie auch wirklich im Palast landet. Ich muss gehen. Es soll niemand wissen, welche Rolle ich spiele."
"Natürlich, Lady. Niemand weiß wer ihr seid außer mir. Und ich bin nicht mehr lange hier." Der Mann verbeugte sich und Lady Mina wandte sich wieder der Treppe zu. Zu verließ die Halle, während der Mann Anavi zu der hinteren Wand brachte.
"Setz dich da rein. Der Rest kommt gleich." Mit einem Seil verband er ihre Hände und steckte sie in einen Käfig. Das Ende des Seils verknotete er mit den Stäben. "Hey, als nächstes hier!", rief er und weitere Gefangene wurden zu ihr gebracht. Auch sie wurden an den Seiten festgebunden, immer mehr wurden in den Käfig gedrängt. Anavi schloss die Augen und lehnte sich an die Stäbe, bis der Käfig keine Menschen mehr fasste und verschlossen wurde.
Nun musste sie warten."Du hast dich etwas übernommen." Anavi saß an den filigranen weißen Teetisch, vor sich die Tasse, gegenüber eine leuchtende Person. "Etwas sehr viel, Anavi."
"Ich habe... Magie eingesetzt. Lorsan war verletzt und der Magier ist einfach nicht... gekommen. Dabei war es nur... ein Stein."
"Trotzdem übernommen. Aber das wird wieder." Das Licht der Göttin flackerte. "Ein paar Stunden, dann kannst du wieder zu ihm. Nicht, dass ich vorhabe ihn vorzeitig sterben zu lassen."
Anavi nickte und sah in die Tasse. Es war Lorsans Bild, das sich darin spiegelte, nicht ihres. Die Augen geschlossen schlief er im Bett der Prinzessin. Etwas stach in ihrem Herzen, dabei waren die beiden nicht mehr als Geschwister.
"Eifersucht ist unnötig, Anavi.", erinnerte die Göttin. "Ihr seid euch nicht zufällig begegnet."
"Also... hat all das einen Sinn? Die Reise? Die Fremden?"
"Die Fremden..." Die Göttin senkte den Kopf. "Die Fremden sind ein Ärgernis. Etwas, das ich nicht bedacht hatte. Ich werde eure Begegnungen reduzieren."
"Und der Sinn?"
Die Göttin schüttelte den Kopf. "Noch nicht. Das ist größer, als du es bist. Ja, sogar als ich es bin. Aber einen Gefallen musst du mir tun, Anavi. Es ist wichtig."
Anavi nickte. Solange sie bei Lorsan bleiben konnte...
"Du musst ihnen eine Botschaft von mir überbringen. Ein König, der es sein will, wird es nie sein. Ein Prinz, auf der Suche nach Freiheit, findet einen Käfig. Ein Prophet, den Göttern nah, muss nach seinem Lehrer suchen." Wieder flackerte das Licht. "Kannst du dir das merken? Und gib es bitte nur an Sylvana, Lorik und Lorsan weiter."
Wieder nickte Anavi. "Werde ich. Und die Träume? Was war die richtige Frage?"
"Vergiss die Frage. Die Träume sind die Folge eines Gebets. Finde heraus, von wem, dann verschwinden sie." Die Göttin schüttelte den Kopf. "Gebete sind meist Hilferufe. Die Götter können nicht alle beantworten. Seher erreichen sie auch, aber meist können sie nicht viel damit anfangen. Gerade die, die mit ihrer Gabe Geld verdienen müssen."
"Ich bin also tatsächlich eine Seherin? Und das sind nur... unerhörte Gebete?"
"Oh, Anavi." Die Göttin stützte ihr Kinn auf ihre Finger. "Du bist so viel mehr, als das. Doch ich darf es dir nicht sagen. Wichtig ist für den Moment nur, dass du an Lorsans Seite bleibst. Selbst wenn sich dein eigener Weg verzögert, habt ihr noch viele Leben Zeit ihn zu betreten. Aber nun ist es Zeit für dich zurückzukehren." Die Göttin deutete auf die Tasse.
Lorsans Lider zitterten und er schlug die Augen auf. Als könnte er sie sehen, hielt er den Blick durch den Tee aufrecht. Sanft lächelte er, seine Augen schimmerten. "Magie. Er beherrscht sie auch."
"Ja. Doch das bleibt unter uns. Noch ist sie noch nicht erwacht. Sobald das geschieht sehen wir uns wieder."
Licht ging von ihr aus, wurde heller und verschlang die Umgebung, dann Anavi. Ein Traum? Sie begann an den Träumen mehr und mehr zu zweifeln.
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Der verlorene Prinz
FantasyAls Anavi ohne Erinnerung an ihr früheres Leben in der Obhut des Heilers Lorsan erwacht, ahnt sie noch nichts von den Verflechtungen, in die sie geraten ist. Zufälle, die sich häufen. Fremde, die behaupten sie und ihre Vergangenheit zu kennen. Träum...