"Du... willst gehen?" Er wollte sie einfach verlassen? Nach allem, was sie besprochen hatten, hatte sie mehr Zeit für sich erhofft.
"Ich wusste ja schon lange, dass du das eines Tages vorhast, Lorsan, aber das ist doch sehr plötzlich." Maia streichelte Anavis Hand, als wüsste sie genau, was im Kopf der Frau vorging. "Was soll denn dann aus uns werden?", nahm sie ihr sogar ihre Frage ab.
"Dafür ist gesorgt, keine Sorge. Du kannst in der Organisation arbeiten. Sie stellen dir auch eine Wohnung zur Verfügung. Du machst sowieso schon mehr dafür, als du eigentlich müsstest. Und Anavi kann bei Chevez in der Schneiderei anfangen. Hanna hat ihr das Angebot schon gemacht."
"Verstehe." Die Ältere drückte ihre Hand. "Ich... muss das mal eben verarbeiten." Sie lächelte, beinahe schien sie glücklich. "Dieser Hinweis hat mit deiner Suche zu tun, nicht wahr? Ich bin traurig, aber auch froh, dass du sie endlich gefunden hast. Du hast dir dieses Glück verdient."
Anavi nickte. Welche Suche, wenn es nicht um diese mysteriöse Adi geht? Und warum sollte er nicht zurückkehren?
"Ich brauche frische Luft." Maia stand auf und ließ Anavi los. "Stell ihm deine Fragen.", flüsterte sie und verschwand wieder so, wie sie gekommen war. Selbst als die Tür wieder ins Schloss gefallen war, schwieg Anavi, atmete ruhig weiter, obwohl ihre Augen brannten.
"Du willst gehen?", wiederholte sie und blinzelte schnell die aufkommenden Tränen weg. "Du lässt mich zurück und sorgst nur für eine neue Arbeit?"
"Es muss sein, Anavi." Der Heile stand auf und wechselte den Platz. Er setzte sich neben sie und nahm ihre Hände. "Ich sagte doch, dass du eine Freundin für mich geworden bist. Und nach gestern wurde mir klar, dass Respen dich wieder angreifen wird, solange ich in diesem Palast bin. Solange ich auch nur irgendwie in seiner Reichweite bin."
"Aber du läufst nur weg. Wer sagt denn, dass der Prinz mir nicht trotzdem auflauert, nur, um dich wieder zu ihm zu führen." Mit einer Hand wischte sie die verräterischen Augen trocken. "Wäre ich nicht auch sicherer, außerhalb von Mida?"
"Du wärst gezwungen, dich den Rest deines Lebens in einem fremden Land zu verstecken. Obwohl du vermutlich aus Warn kommst, erinnerst du dich nicht an dort. Nicht so, wie es sein sollte. Das heißt, du hast gewissermaßen dein ganzes Leben hier verbracht. Du müsstest deine Freundinnen zurücklassen. Du würdest sie nie wieder sehen." Er stoppte und verbannte seinerseits eine Träne von ihrer Wange. "Und trotzdem wärst du nie in Sicherheit. Respen hätte es einfacher dich aufzuspüren, als mich. Wenn er mit den Menschenhändlern arbeitet, dann ist er sehr gut vernetzt. Wenn du aus Warn geflohen bist, dann suchen auch sie nach dir."
Anavi nickte. Es klang schlüssig, aber... "Und bei Chevez soll er mich nicht finden?"
"Chevez und die Schneiderei stehen unter dem Schutz unserer Organisation. Wer keine Möglichkeit mehr hat, zurück zu seiner Familie zu kommen, der fängt dort an und baut sich ein Leben auf. Es ist sicher und nah genug, damit man dich eben genau dort nicht vermutet. Nicht so nah am Palast."
"Aber, ich will bei dir bleiben. Hast du keine Angst, dass nach dir gesucht wird? Dass Respen nach dir schickt, sobald du den Plast verlassen hast?"
"Natürlich besteht dieses Risiko. Aber die Grenzkontrollen nach Ming sind streng. Sie lassen keine bewaffnete Armee durch. Und weil er mich lieber quält, als umbringt werden keine Attentäter auftauchen." Lorsan lächelte, auch wenn es traurig wirkte. "Alleine kann ich schneller reisen."
"Hm..." Sie atmete tief ein und aus, schloss die Augen und zwang ihr Herz und ihre Gedanken sich zu beruhigen. Gab es nicht noch etwas zu beachten? Eine Möglichkeit, wie sie ihn von sich als Begleitung überzeugen konnte?
"Und wenn die Kleine nur scheinbar in der Stadt bleibt? Man würde nur nach dir suchen, aber ein Paar auf Reisen fällt weniger auf." Überrascht drehte sie sich um. An das Regal gelehnt stand die dunkelhaarige Schönheit Faria und lächelte. In einer Hand hielt sie einen Brief. Anavi fiel auf, dass das Band in ihrem Haar diesmal fehlte. "Eigentlich bin ich nur deswegen hier, aber die Unterhaltung war einfach zu spannend."
"Man belauscht keine Gespräche.", erinnerte Lorsan, diesmal wesentlich ungehaltener als das letzte Mal, als die beiden Anavi beim Lauschen erwischt hatten. Die Frau ließ sich ihr Lächeln nicht nehmen und trat auf die Sitzgruppe zu. Elegant ließ sie sich auf einen der freien Sessel fallen. "Dann hättest du keine so gute Spionin aus mir machen sollen. Hier, für dich." Sie legte den Brief auf den Tisch. Trotz verschwommenen Blicks erkannte Anavi ein Wachssiegel mit dem Kopf einer Eule. "Denk trotzdem darüber nach."
Der Heiler sah erst zu Anavi, dann Faria. "Im Gegensatz zu dir kann sie weder reiten noch kämpfen. Das wäre einfach viel zu gefährlich. Und Donner kann sie nicht die ganze Zeit tragen. Wir kämen nicht schnell genug voran."
"Ich kann es lernen, bis wir aufbrechen." Dass ausgerechnet die Magierin ihr helfen würde, hätte sie nie gedacht. Sie war damals so vorschnell und hat sie verdächtigt, obwohl selbst Lorsan ihr Vertrauen bestätigt hatte. Noch gut erinnerte sie sich auch an den Angriff...
"Reiten vielleicht.", lenkte der Heiler ein. "Aber kämpfen? Ich kann ihr nichts beibringen."
"Dann mach ich das." Neugierig drehte Faria den Pulverbeutel in der Hand. "Es dürfte reichen, wenn sie jemanden verletzt und wegrennt, oder?"
DU LIEST GERADE
Der verlorene Prinz
FantasyAls Anavi ohne Erinnerung an ihr früheres Leben in der Obhut des Heilers Lorsan erwacht, ahnt sie noch nichts von den Verflechtungen, in die sie geraten ist. Zufälle, die sich häufen. Fremde, die behaupten sie und ihre Vergangenheit zu kennen. Träum...