Schnee und Wälder. An nichts war Jona reicher als Schnee und Wäldern. Gelangweilt starrte Anavi in die helle Landschaft. War es selbstsüchtig den Wunsch zu hegen, dass Lorsan seine Familie nicht fand? Zumindest, wenn sie dann nicht in dieser eintönigen Welt leben musste.
Sie vermisste schmerzlich die Farben und die Wärme Mings. Grüne Schlangen oder goldene Löwen wollte sie gerade lieber sehen als das ewige Weiß.
Dem Heiler schien es anders zu gehen. Er unterhielt sich mit den Söldnern, dem Händler und den Einwohnern der Dörfer, die sie bereits durchreist hatten. Lachte und scherzte mit ihnen. Ihm schien die Farblosigkeit Jonas nichts auszumachen."Ihr seid still, Anavi. Fühlt Ihr Euch nicht wohl?" Es war der Söldnerführer Lurs, der sie aus ihren Gedanken holte. Der alte Krieger hielt schon eine Weile seine schützende Hand über sie.
"Es ist nur diese Eintönigkeit. Nichts weiter." In Gedanken klopfte sie an Hylias Hals. Die Stute brummte leise. "Seit wie vielen Tagen reiten wir schon durch verschneite Wälder?"
"Seit vier." Lurs lächelte. "Ich kann verstehen, dass es Euch langweilt. Ich bin selbst in Ming aufgewachsen und kenne die starken Unterschiede. Aber, wenn es Euch beruhigt, Anavi, habe ich Euer Ziel, das Gebiet Otis bereits sehen dürfen. Dort ist es anders, als im Rest Jonas. Der Winter bleibt in dem Gebiet mild, weshalb dort die Hauptstadt liegt."
"Ja, das hat Lorsan schon erzählt. Es soll dort einen magischen Wald geben." Hoffentlich gab es dort wirklich Abwechslung. Weniger Schnee. Selbst andere Grüntöne im Wald würden ihr reichen."Ob er magisch ist, wissen nur die Götter. Aber er hält die Kälte fern. Das ganze Jahr zieren grüne Blätter seine Bäume. Es wachsen Blumen und Früchte und selbst die Tiere greifen nicht an."
"Und die Hauptstadt? Habt Ihr die schon gesehen?" Vielleicht konnte sie der Reise ja etwas abgewinnen, wenn sie ihr Ziel erreichten. Oder, wenn sie sich darauf freuen konnte.
"Nur von fern leider." Der Söldner klang traurig. "Es gab keine Mauer, kein Tor. Der Wald selbst schützt die Stadt, heißt es. Ich sah lange Häuser, fast wie Dörfer, die sich zusammenschlossen. Sie waren nicht hoch, daher war der Palast Jonas schon von Weitem zu sehen. Er steht auf einem Hügel, in der Mitte der Stadt. Spitzen mit silbernen Wölfen strahlen in der Sonne."
"Der Gesandte der Götter, richtig? Der Wolf als Jäger."
"Ja. Jona ist das Land der Jagd. Aber es gibt auch tiefe Minen in den Nördlichen Bergen. Mit den dort gewonnenen Schätzen fertigen sie besondere Schmuckstücke." Er griff an seine Brust und zog einen kleinen Anhänger unter der Rüstung hervor. Mings Schlange drehte sich über einer Mondsichel. "Ein Geschenk für meine Frau, nach meiner ersten Reise. Sie hat das Gegenstück. Habt Ihr auch etwas von Eurem Geliebten?"Wieder klopfte Anavi an Hylias Hals. "Mein Pferd. Aber das ist mehr als genug." Von teuren Kleidern und Schmuck wollte sie lieber nichts erzählen. Es war immer noch nicht zu glauben, dass er das soranische Ballkleid von damals einfach eingepackt hatte. Samt Schmuck! Sie hatte sich nur still geärgert, als sie das kleine, in Stoff geschlagene Päckchen in einer der Taschen entdeckt hatte. Als könnte sie diese Kleidung in Jona tragen, ohne angestarrt zu werden.
"Ein Pferd ist wertvoll. Und für eine lange Reise besser geeignet, als Schmuck." Lurs sah nach vorn. Lorsan ritt neben dem Wagen des Händlers und unterhielt sich leise mit ihm. Nicht, dass sie das Gespräch belauschen wollte. "Morgen werden sich unsere Wege trennen, Anavi. Nach Otis geht es weiter nach Norden. Das Dorf, das wir ansteuern, wird unser letzter gemeinsamer Aufenthalt sein." Er wechselte mühelos das Thema und lächelte noch. "Ich wünsche Euch schon jetzt, viel Glück auf der weiteren Reise. Euer Ziel ist nur noch wenige Tage entfernt.""So bald schon..." Anavi wandte den Blick zurück zu den Bäumen. Je schneller sie aus der Eintönigkeit erlöst wurde, umso besser. Schnee und Wald schlugen ihr wieder auf die Stimmung. "Wie schafft Ihr es eigentlich diese Leere zu ertragen? Ist das Gewöhnung?"
Der Söldner lachte auf. "Nein, wohl kaum. Ich freue mich einfach auf die Rückkehr nach Hause. Frau und Kinder, die auf mich warten. Solange man ein Ziel hat, erträgt man auch die leere Landschaft."
Wie zur Aufmunterung tauchte Sun aus den Wäldern auf. Das graue Fell war mit Schnee bedeckt, was die Wölfin mit der Umgebung verschmelzen ließ. Direkt neben Hylia tapste sie weiter, streckte den Kopf zur Reiterin und ließ sich streicheln. Selbst die Wölfe schien die Umgebung nicht zu stören.
"Das ist mir gerade aufgefallen. Der Wolf ist größer als normalerweise, wie es scheint." Auch der Söldner streckte die Hand nach unten und Sun wechselte die Seiten so, dass sie zwischen den Pferden lief und sich auch von ihm eine Streicheleinheit abholte.
"Ich habe noch keinen anderen Wolf gesehen. Ihr meint, sie sollten kleiner sein?"
"Ja, ein ganzes Stück." Der Söldner kratzte sich am Kinn. Ein grauer Bart war dort inzwischen gesprossen. "Eigentlich sollte es nicht möglich sein, sie so zu streicheln."
"Hm... Vielleicht, weil sie von Hand aufgezogen wurden? Ich glaube, Lorsan hat sie als Welpen gefunden, wenn ich mich richtig erinnere. Außerdem war es in Mida wärmer. Mehr Futter, mehr Größe. Oder nicht?" Obwohl sie zugeben musste, dass es tatsächlich schien, als seien sie auf der Reise nochmal ein ganzes Stück gewachsen - oder täuschte sie sich?
"Mag sein." Lurs stoppte und legte die Hand zurück an die Zügel. "Vielleicht irre ich mich auch. Noch haben wir keine Jäger gesehen, die mit Wölfen arbeiten." Er sah wieder nach vorn. Einen Moment schien er etwas zu suchen, dann erhellte sich seine Miene. "Seht, Anavi. Da vorne ist Rauch. Wir werden das Dorf bald erreichen. Scheint, als hättet Ihr bald Zeit die leere Landschaft für eine Nacht zu vergessen."
Ganz leicht waren graue Rauchsäulen vor den viel zu hellen Himmel zu erkennen. Tatsächlich wurde ihr leichter. Wenigstens etwas Abwechslung genügte ihr schon.
Lurs verabschiedete sich und ritt wieder nach vorn zur Gruppe. Er musste den Rest beaufsichtigen, damit sie nicht doch noch, so kurz vor dem Ziel, Probleme bekamen.
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Der verlorene Prinz
FantasyAls Anavi ohne Erinnerung an ihr früheres Leben in der Obhut des Heilers Lorsan erwacht, ahnt sie noch nichts von den Verflechtungen, in die sie geraten ist. Zufälle, die sich häufen. Fremde, die behaupten sie und ihre Vergangenheit zu kennen. Träum...