Getrennt vom Zentrum der Stadt wurde die Handelsstraße von einem kleinen Park, umrandet von hohen Hecken, die die umstehenden Häuser verschluckten, den Palast aber weiterhin sehen ließen. Rosalie führte die Gruppe langsam über die Kieswege, neben denen kleine Wasserläufe flossen. In den Flächen dazwischen wuchsen farbenprächtige Blumen in Mustern, in anderen wurden mehrere Podeste und Überdachungen aufgebaut.
"Hier wird gebaut." Lorsan sprach aus was Anavi dachte. Vor allem der große, gestapelte Haufen Holz auf einer Fläche, an der sich die Wege trafen erstaunte sie. "Wird etwas vorbereitet?""Tatsächlich ja. Das Schneefest findet in ein paar Tagen statt." Rosalie nickte zu dem Holzstapel. "Hier wird am zweiten Tag ein großes Feuer entzündet. Es dauert drei Tage, während denen auch die Arbeit niedergelegt wird. Es ist eine große Feier, um die Höhe des Winters zu feiern."
"Sollte für so etwas nicht Schnee fallen?" Lorsan streckte probehalber die Hand aus, die Luft blieb jedoch weiterhin trocken.
"Dafür ja das Fest." Rosalie hielt an, drehte sich schnell im Kreis und deutete dann im rechten Winkel am Palast vorbei. "Der Wind kommt aus Norden, während des Festes. Er trägt die kalte Luft und den Schnee des tiefsten Winters aus Jona über das Land. Drei Tage wird Ming unter Schnee begraben, dann verschwindet er wieder. In diesen drei Tagen gibt es große Feste im ganzen Land. Auch in der Stadt wird an mehreren Kreuzungen das Feuer entfacht und zusätzliche Marktstände aufgestellt. Es gibt Gewerbe, die an fiesen Tagen den Umsatz für das ganze Jahr machen.""Ein Fest klingt interessant. Gehst du auch?" Neugierig sah Anavi die große Frau an. Es war sicher kein Fest, das man sich entgehen lassen sollte. Nur störten ihre Erinnerungen an den Ball. Erneut wollte sie nicht ungewollt auf eine Tanzfläche gezogen werden. Wer konnte schon wissen, wer diesmal glaubte sie zu erkennen.
"Vielleicht." Rosa grinste. Anavi bereite ihre Frage im gleichen Moment. "Wenn ihr beide mich begleitet?""Du weißt, ich mag keine Feste." Die Antwort des Heilers war kühl. Seinen Unmut über seine Anwesenheit hatte er schon auf dem Ball nicht verborgen. Hatte nicht auch Maia darüber etwas erwähnt? Dass er gesellschaftliche Anlässe mied?
"Nach dem letzten Mal bin ich auch nicht begeistert. Aber hab nur Spaß."
"Es ist nicht so ein Fest." Schmollend schob Rosalie die Unterlippe vor. "Natürlich gibt es auch ein großes und offizielles im Palast, aber Fremdländer haben dort keinen Zutritt. Hier ist es ein Fest für die Bürger und Gäste. Niemand zwingt euch in Rollen." Sie sah zu Lorsan. "Ich weiß doch, dass du dich zwischen dem einfachen Volk wohler fühlst. Das wird lustig. Wir müssen nur ein paar Kleider in Auftrag geben.""Nur das einfache Volk..." Anavi sah auf das Feuer. Wollte sie sich wirklich wegen des Verhaltens des Prinzen vor der Welt verstecken? Wegen einer Vergangenheit die sie nicht kannte, nicht sicher sein konnte, was darin geschehen war?
"Niemand wird euch großartig Beachtung schenken. Wir sind nur ein paar weitere Gäste.", wiederholte Rosalie mit Nachdruck. "Bitte."
Fragend sah sie zu Lorsan, dessen Blick auf dem Holz lag und seine Geheimnisse nur dadurch schien ergründen zu wollen. Dann seufzte er, murmelte leise, sie hätte es genau so geplant und nickte. "Wenn Anavi einverstanden ist, dann besuchen wir das Fest. Aber ich will nicht, dass wir mehr als Gäste sind. Ich weiß ja nicht, wie bekannt du in der Stadt bist.""Mich kennt kaum jemand. Oder besser meine Position. Also Anavi. Deine Entscheidung." Erwartungsvoll sah die Große sie an. Auch von Anavi folgte die Bestätigung. Ein kurzes Nicken, das Rosalie überglücklich strahlen ließ. Eine leise Stimme flüsterte Anavi, dass sie tatsächlich genau das geplant hatte.
"Dann... machen wir gleich weiter." Rosalie grinste noch und führte sie nun wesentlich zügiger durch den Park und auf einen Marktplatz.
Stände standen dort dicht gedrängt, die ersten Kunden gingen über den Platz, doch ihr Ziel lag mittig an der Seite in einem der umstehenden Gebäude. Eine Schneiderei in der sie sofort schwerer Parfümnebel einhüllte. Es erinnerte an Chevez' Schneiderei. Und nicht nur der Duft..."Meine Gäste. Willkommen." Tief verbeugte sich der Sprecher mit der hohen Stimme und dem ungewöhnlich orangen Haar. Ein schlanker, femininer Mann, der dem Schneider aus Mida zum verwechseln ähnlich sah.
"Chevez?" Wieder sprach Lorsan Anavis Gedanken aus. Aber konnte das der bekannteste Schneider Midas sein? Selbst? In einem anderen Land?"Chevez? Nein, Ihr verwechselt mich, mein Herr." Der Mann lächelte. "Doch tatsächlich habe ich einen Bruder mit diesem Namen."
"Ich wusste nicht das Chevez einen Zwilling hat." Lorsan lachte. "Das ist Zufall oder Schicksal. Auf jeden Fall eine Überraschung."
"Ich wollte es dir nicht gleich sagen." Rosalie trat vor und klopfte dem Schneider auf die Schulter. "Chavez, das sind Lorsan und Anavi. Chevez ist ihr Schneider in Mida."
"Mida also? Wie spannend. Dort wollte ich auch hin, nur dann ist mir eingefallen, dass sie keine Magier mögen." Er hob die Hand, worauf mehrere Maßbänder, Stifte und Papier auf ihn zu schwebten. "Chev hat das Problem nicht. Aber gut, jeder ist anders." Der Soraner schnippte mit den Fingern und deutete in den hinteren Teil des Ladens. "Dann an die Arbeit. Morgen ist der erste Tag und wir haben noch viel zu tun. Dem Material hinterher, ich muss Maße nehmen. Für die Dame ebenfalls?"
"Nein, ich bin ausgerüstet." Rosalie tippte an ihre Brust, wo bei Lorsan und Anavi das Abzeichen steckte. "Aber die beiden sind nur Gäste."
"Ah, verstehe. Also nur geliehen." Chavez nickte. "In Ordnung. Trotzdem brauche ich die Maße. Schnell, der Tag verfliegt."Lorsan lies sich nicht langer bitten und folgte dem Material, Anavi direkt hinter ihm. Es ging in zwei verschiedene Umkleideräume, wie schon in Rosalies Haus im Vorraum des Bades.
"Ich glaube, das war ein Fehler." Der Heiler grinste noch, bevor er schnell in einem Raum verschwand, kurz bevor auch Chavez um die Ecke bog und Anavi ihre Umkleide ebenfalls betrat.
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Der verlorene Prinz
FantasyAls Anavi ohne Erinnerung an ihr früheres Leben in der Obhut des Heilers Lorsan erwacht, ahnt sie noch nichts von den Verflechtungen, in die sie geraten ist. Zufälle, die sich häufen. Fremde, die behaupten sie und ihre Vergangenheit zu kennen. Träum...