70 - Einladung in den Palast

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"Mir ist langweilig." Unangekündigt kam Anavi in Lorsans Zimmer, wo dieser in einem Sessel über einem Buch saß. Er schreckte nicht einmal auf, obwohl sie ihn überraschen sollte. "Ich bin es nicht gewohnt, nichts zu tun."
"Zumindest solange du dich erinnerst."
Statt einer Antwort warf sie ein Zierkissen auf ihn. Gekonnt fing er es mit einer Hand und stellte es auf den Boden. Er war ein wesentlich besserer Kämpfer, als es zuerst den Anschein hatte, das hatte er in den Wochen nach dem Fest eindrucksvoll bewiesen.
"Mir ist trotzdem langweilig." Müde ließ sie sich auf das Bett des Heilers fallen. "Wieso passiert dir das nicht?"

"Ich lese." Den Blick noch immer in die Seiten gerichtet tippte er auf den Einband. "Ich würde es dir beibringen, wenn du es lernen wolltest."
"Wofür sollte ich das können? Ich arbeite doch nur für dich. Wenn ich den Haushalt mache, dann muss ich nichts lesen." Ihr Blick heftete sich an die bemalte Decke. War in der Jagdszene ein Löwe mit der Sonne im Maul?
"Und wenn du etwas über die Welt lernen willst? Oder sichergehen, dass ein Brief auch für dich ist?"
"Kein lesen, keine Briefe. Außerdem... zwei Dinge kann ich." Anavi hob die Hand. Mit dem Finger schrieb sie zwei unsichtbare Wörter in die Luft. "Anavi. Hilfe. Außerdem ist Feder der einzige, der dir Nachrichten bringt. Und das geht mich nichts an."

Ein schnelles Klopfen an der Tür durchbrach die sich ausbreitende Stille. Selbst Lorsan hob nun den Kopf und sah zur Tür. "Um die Zeit? Ist schon Mittag?"
"Nein. Zu früh."
Das Klopfen wiederholte sich, schloss jetzt aber aber Annas aufgeregter Stimme: "Lorsan! Anavi! Es ist wichtig! Seid ihr da?"
Lorsan sprang auf, legte das Buch trotzdem ordentlich zur Seite, und zog die Tür auf. Der Dolch in der freien Hand blitzte nur kurz auf.
Aufgeregt stand das junge Dienstmädchen vor der Tür, sah schwer atmend zwischen den Gästen hin und her. "Eine Kutsche. Audienz..." Sie hob eine Hand, worauf zwei weitere Mädchen mit Stoffbündeln neben ihr erschienen. "Ihr müsst euch beeilen."

"Ruhig Anna. Was ist los?" Fürsorglich nahm Lorsan sie an den Schultern und beugte sich zu ihr. Die Nähe und fehlende Distanz des Heilers war ihr am Anfang noch sichtbar unangenehm gewesen. Jetzt ließ sie es ohne Probleme zu und atmete tatsächlich mehrmals tief ein und aus. Ruhiger erklärte sie: "Eine Kutsche ist aus dem Palast gekommen. Ihr beide werdet für eine Audienz beim König erwartet. Es ist wichtig, wenn für diese Nachricht kein Bote Tage vorher geschickt wird. Darum müsst ihr euch schnell umziehen. Der Weg ist zwar nicht weit, aber es heißt, der König erwartet seine Gäste immer früher."

"Eine Audienz?" Nervös biss Anavi sich auf die Lippe. Gerade hatte sie sich noch über Langeweile beschwert. Einer der Götter schien seine Späße zu treiben. "Das ist schlecht, oder?"
"Nicht unbedingt. Aber wir sollten so eine Einladung nicht ignorieren." Lorsan sah zu Anna. "Nicht, dass das möglich wäre, oder?"
Das Mädchen schüttelte den Kopf, dann schwärmten ihre Gehilfinnen schon aus. Eine zog einen Raumteiler aus einer Ecke, die andere schob Anavi dahinter. Lorsan blieb im Raum und bekam seinerseits passende Kleider gereicht.

"Ich kann das selbst." Schnell wickelte Anavi sich in das Kleid, das dem Festgewand ähnelte. Nur war es diesmal in einem dunklen Violett gehalten und mit goldenen Stickereien verziert. Dazu folgte schwerer Halsschmuck, der ihr auf die Schultern drückte und eine kompliziert geflochtene Frisur, die am Ende hochgesteckt wurde.
Die beiden Mädchen bei ihr kümmerten sich tatsächlich nur um Haare und Sitz des Kleides, bevor letztere ihr noch ein breites, fast durchsichtiges Tuch reichte und damit die Schultern bedeckte.
Hatte sie sich mit dem soranischen Kleid unwohl gefühlt, war dieses hier schlimmer. Zwar nicht freizügiger, dafür aber schwerer - und sicher wesentlich wertvoller.
Zuletzt steckten sie ihr leichte Schuhe mit hölzernen, schrägen Sohlen an die Füße. Es fühlte sich an, als ginge sie auf Zehenspitzen. Ihr Gleichgewicht konnte sie auch nur schwer halten. Ob sie überhaupt sicher im Palast ankam?
"Muss ich etwas beachten?" Die Helferinnen antworteten nicht, schoben die stolpernde Anavi nur wieder in den Raum, wo Lorsan diesmal in Weiß mit Goldstickereien vor ihr stand. Nur von seinem braunen Gürtel mit den vielen Taschen ließ er sich nicht trennen. Dieser störte das Bild.
Wenigstens schien er über die gleichen Schuhe wie sie missmutig auf den Boden zu sehen.

"Beide fertig? Gut." Anna atmete noch einmal tief durch und nickte. "Lady Rosalie nimmt euch in Empfang. Sie erklärt euch die Etikette am Hof. Anavi..." Der Blick des Mädchens ruhte auf ihr. "Nimm dich vor den Prinzen in acht. Es gibt Gründe, warum die Thronfolger immer wechseln."
"Rosa hat schon etwas angedeutet." Beschützend nahm Lorsan ihre Hand. "Ich passe auf sie auf, keine Sorge."
"In Ordnung." Anna deutete zur Tür. "Dann schnell."

Sie rannten fast durch das Haus, so gut es Anavi zuließ. Der Heiler hatte deutlich weniger Probleme mit dem unbekannten Schuhwerk - oder kannte er das schon?
Durch den Eingang und die Wiese über die kleine Brücke hin zur Straße stolperte sie hinterher. Die Kutsche war schon von Weitem zu sehen. Sogar schaulustige Angestellte des Hauses hatten sich um das goldene Gefährt versammelt.
"Herr Lorsan? Lady Anavi?" Ein Soldat kam ihnen entgegen, die Rüstung ebenso golden wie die Kutsche. "Ich entschuldige die plötzliche Störung, doch Ihre Anwesenheit wird gewünscht." Er verbeugte sich respektvoll, wobei sein Blick bei der Begrüßung einen Moment länger auf Anavi zur Ruhe kam.
"Schon gut. Könige versetzt man nicht." Der Heiler schüttelte den Kopf. "Können wir los oder müssen wir noch etwas wissen?"
"Alles während der Fahrt." Der Soldat trat zurück und zog die quietschende Tür auf. "Mylady." Er bot Anavi Hilfe zum Einstieg, doch sie hatte den Blick bemerkt und vermied weitere Nähe zu dem Fremden. Schnell stieg sie ein, trat dennoch nur vorsichtig auf, um das Kleid nicht erneut zu beschädigen oder zu fallen. Nervös ließ sie sich auf einem der mit rotem Stoff gepolsterten Plätze nieder, Lorsan nahm neben ihr Platz.

Unglücklicherweise setzte sich auch der Soldat zu ihnen, klopfte mit der Faust gegen die Wand und gab so ein Zeichen, dass sie losfahren konnten.
Anavi sah dabei aus dem Fenster, sah schnell Häuser, dann Bäume vorbeiziehen, spürte den neugierigen Blick des Soldaten jedoch weiter.
"Könnt Ihr uns sagen, was der König will?", startete Lorsan ein Gespräch. Anavi behielt den Blick nach draußen bei, lauschte aber aufmerksam.
"Ich habe leider genauen Informationen. Ich erhielt lediglich den Auftrag von der Generalin, ihre Gäste in den Palast zu bringen."
"Es ist wohl nicht ungewöhnlich so spontan eingeladen zu werden. Ihr untersteht also Rosalie?"
"Genau. Ich bin Mitglied der Königswache. Mein Name ist Maxis." Wieder sah er zu Anavi, was sie mit einem unsicheren Seitenblick erwiderte. Der Soldat Maxis erinnerte sie zu sehr an den Prinzen Midas.

"Aha. Maxis also." Lorsan griff unvermittelt nach ihrer Hand. "Könntet Ihr dann aufhören meine Verlobte zu beobachten?"
Einen Moment klopfte Anavis Herz schneller, dann erinnerte sie sich an die Situation. Natürlich wollte der Heiler sie nur irgendwie schützen.
"Verlobte..." Maxis schüttelte den Kopf. "Ich verstehe. Verzeiht bitte mein Verhalten. Ich ging davon aus, dass..."
"Was auch immer Rosalie erzählt hat oder nicht, sie wollte es sicher noch nicht verbreiten.", unterbrach ihn Lorsan. "Und nun zurück zum Thema, Maxis. Wisst Ihr wirklich nichts über den Grund der Einladung?"

"Ein Bericht der Generalin." Er neigte den Kopf, richtete den Blick starr zu Boden. "Daraufhin erfolgte die Einladung. Mehr ist mir nicht bekannt. Ich sollte Euch lediglich abholen."
"Ein Bericht?" Der Heiler wandte den Kopf, als sie laut dachte. "Entweder über die Panik oder das Pulver. Sie sagte doch, sie müsse einen Bericht schreiben."
"Dann denke ich eher, es geht um das Pulver. Dein Entführer war ja bereits verschwunden. Ich denke nicht, dass er gefasst wurde."
"Dabei..." Sie hatte schon ein paar Mal über den Fremden nachgedacht. Er schien keine böse Absicht gehabt zu haben, auch wenn sein Weg sie zu sprechen falsch war. Nur was der Kuss bedeuten sollte, hatte sie noch nicht herausgefunden. Sie konnte sich auch nichts vorstellen. "Vielleicht war er doch ein Freund..."

"Das können wir ihn leider nicht fragen." Lorsan drückte sanft ihre Hand, wobei sie den Blick wieder nach draußen richtete. Der Soldat schwieg auch den Rest des Weges. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

Der verlorene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt