Jemand strich durch ihr Haar, vorsichtig, als wollte er sie nicht wecken. Müde öffnete sie die Augen. Eine weiße Decke hing über ihr, Fliederduft erfüllte den Raum und ließ sie lächeln. Einen Moment lang war sie glücklich. Dann stürmten die Erinnerungen auf sie ein. Der Angriff der Söldner, sie hatte sich verteidigt. Sinnlos, weil sie geschlagen wurde.
"Lorsan... sind wir sicher?"
"Sind wir. Es ist alles gut." Sie drehte den Kopf, sah zu dem Heiler, der die Hand von ihrem Kopf nahm. "Die Söldner kommen nicht wieder."
"Hm." Ihre Hand schloss sich um die Erinnerung des Messers, das sie dem Mann in den Bauch gestoßen hatte. "Ist er tot?""Der, der dich bedroht hat?"
"Den ich verletzt habe."
Lorsan schien einen Moment zu überlegen dann lächelte er. "Nein, aber das dauert sicher nicht mehr lang. Die Überlebenden wurden gestern in das Gefängnis der Stadt gebracht."
"In Ord... Gestern?" Ihre Müdigkeit war vergessen und sie setzte sich auf. Zu schnell, weshalb sie sich den dröhnenden Kopf hielt. "Wie lange war ich...?"
"Ein Tag." Lorsan reichte ihr ein Glas Wasser. Es schimmerte grün und roch bitter. Kein Gift, nur Medizin. "Die Toten aus dem Haushalt werden heute Abend bestattet."
Anavi nickte. "Anna?"
"Leider." Er legte seine Hand auf ihre und stellte das Glas weg. "Sie starb schnell, auch wenn das keinen Trost spendet."
Wieder nicken. Sie war ein so nettes Mädchen und noch so jung. Wäre sie nicht für ihre Gabe an diesem Abend bei ihnen gewesen...
"Du suchst die Schuld bei dir, Anavi. Es ist nicht deine." Lorsan setzte sich neben sie auf das Bett, zog sie an sich. "Niemand konnte ahnen, dass das Anwesen angegriffen wird.""Aber... wenn sie nicht da gewesen wäre..." Ihre Augen brannten, die Tränen bahnten sich ihren Weg. Schluchzend drückte sie das Gesicht an seine Brust. "Das hätte nicht sein müssen..."
"Selbst Rosa kann den Tod nicht aufhalten. Nicht die Verlorenen zurückbringen. Vielleicht wäre sie trotzdem unter den Opfern gewesen. Sie haben auch andere getötet, die in den Gängen waren."
Anavi schluchzte. "Kann ich... mitkommen? Wenn sie... gehen..."
"Wenn du möchtest halte ich dich nicht auf."
Sie nickte, schloss die Augen. Trotz seiner Worte verschwand die Schuld nicht, die Last auf ihrem Herzen. Es begann schon viel früher. Wäre sie dem Heiler doch nie begegnet..."Klopf klopf. Wie geht es ihr?" Rosalies Stimme unterbrach ihre Vorwürfe. Sie sprach leise. Dass sie Personal verloren hatte, war nicht daraus zu hören.
"Ich habe es ihr gesagt." Mehr musste Lorsan nicht sagen, um sie aufsehen zu lassen. "Ich bin nicht gut im trösten."
"Das ist keiner, glaub mir. Anavi, es tut mir leid." Sie legte ihr die Hand auf die Schulter und setzte sich neben den Heiler. "Das konnte niemand verhindern. Es waren zuviele für zwei."
Anavi wusste, dass sie sich wiederholte: "Wenn sie nicht da gewesen wäre..."
Rosalie schüttelte den Kopf. "Wir haben noch mehr gefunden. Für jeden Toten werden sie bestraft - auch wenn sie das nicht zurückbringt.""Die Familien? Wissen sie es schon?" Diesmal reichte ihr die Blonde das Wasser, ohne Medizin. Die Kälte tat gut, half gegen die Tränen. Vielleicht war es doch kein reines Wasser.
"Ja. Es gab einen Tumult, als wir den Anführer verhaftet haben. Danach haben wir das Anwesen abgesucht."
War es für sie auch so schwer, wog der Verlust im gleichen Maß? Wie war es, ein Familienmitglied zu verlieren?
"Anavi? Du wirkst abwesend. Möchtest du allein sein?"
"Nein. Schon gut. Ich..." Sie blinzelte als ihre Sicht unscharf wurde, krallte sich in Lorsans Hemd. Für einen Moment hörte sie noch Rosalie panisch rufen, dann fiel sie in Finsternis.Weiches Gras unter ihrem Rücken ersetzte das Bett. Fliederduft wurde vom Wind getragen und sie sah gegen helles, weißes Nichts über sich.
"Was machst du denn hier?" Eine Frau beugte sich in ihr Blickfeld. Dunkelblaues Haar schirmte das Nichts ab. "Hat dich jemand gerufen?"
"Wo bin ich?" Natürlich musste das ihre erste Frage sein. Dabei konnte sie es sich doch denken. War Lorsans Medizin falsch gewesen und er hatte sie versehentlich vergiftet?
"Im Hain. Ich helfe dir hoch, wenn du willst." Die Frau lächelte und reichte ihr die Hand. Dankbar ließ Anavi sich aufhelfen und konnte sich besser umsehen. Die Fliederbüsche um sie herum kannte sie schon.
"Bin ich tot? Ist das der Götterwald?"
"Nicht sicher und ja. Möchtest du Tee? Ich habe gerade eine Kanne aufgesetzt.""Götterwald..." Ihr Kopf pochte plötzlich. "Ich bin Anavi. Tee ist ein Anfang. Kann ich noch mehr Fragen stellen?"
"Sicher doch." Die Frau lachte. "Nenn mich Triney." Sie brachte sie zu einem bekannten weißen Pavillon in dem bereits ein Tisch mit zwei Stühlen und Teetassen wartete. Der Frau gegenüber nahm sie Platz und ließ sich Tee eingießen.
"Also, wenn ich zuerst eine Frage stellen darf, was führt dich her?"
"Ich... habe erfahren, dass eine Freundin gestorben ist und fühle mich schuldig. Aber ich weiß nicht, ob das der Grund ist." Anavi nippte an dem Getränk. Es waren fremde Kräuter darin gelöst.
"Eine Freundin..." Triney schien etwas zu wissen. "Dann... möchtest du bestimmt mit ihr sprechen."
"Geht das denn so einfach?"
"Natürlich." Sie grinste und klopfte zweimal auf den Tisch. "Ich brauche ihren Namen, wo sie gelebt hat und wann sie gestorben ist.""Sie heißt Anna und lebte in Ming. Dort hat sie für Rosalie Mida gearbeitet und ist... vor zwei Nächten gestorben." Sie senkte den Blick. Nur weil die Frau schien, als könnte sie ihr vertrauen, wollte sie keine Enttäuschungen erleben.
"Anavi? Was machst du hier?"
Überrascht hob sie den Kopf. Ein dritter Platz war besetzt. Anna saß neben ihr, die Tasse Tee dampfte ungerührt. Sie schien sogar glücklich. Es war keine Wunde zu sehen und sie trug ein leichtes, silbernes Kleid.
"Ich... will mich entschuldigen." Tränen brannten wieder in ihren Augen. "Nur weil wir diese Geistergeschichten erzählt haben, bist du tot..."Anna lächelte und legte ihr die Hand auf die Schulter. Triney reichte ihr ein Taschentuch. "Das kann immer passieren. Niemand konnte das voraussehen. Du bist nicht Schuld, Anavi, denn das ist es, was dich hergeführt hat. Und irgendwann sehen wir uns hier wieder, ja? Ich warte auf dich und du erzählst mir von eurer Reise." Anavi nickte. Ihr Herz wurde leichter. War das Annas Anwesenheit? "Lebe einfach für mich mit. Um alles andere kümmert sich Lady Rosalie."
"Wir... sehen uns wieder?"
"Irgendwann." Anna lachte. Sie schien nicht mehr jung zu sein. Das Mädchen war im Tod gealtert. "Aber beeil dich nicht."
Wieder nickte Anavi, tupfte ihre Tränen ab."Oh, Zeit zu gehen." Triney kicherte, dann verschwand alles im weißen Nichts. Zumindest Anna war glücklich, obwohl sie nicht mehr unter den Lebenden weilte.
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Der verlorene Prinz
FantasyAls Anavi ohne Erinnerung an ihr früheres Leben in der Obhut des Heilers Lorsan erwacht, ahnt sie noch nichts von den Verflechtungen, in die sie geraten ist. Zufälle, die sich häufen. Fremde, die behaupten sie und ihre Vergangenheit zu kennen. Träum...