"Wo warst du? Wie hast du gelebt? Hast du mich je vermisst? Wie bist du hergekommen?", fragte die Prinzessin ohne Pause, kaum hatten sie das kleine, aber besser eingerichtete Zimmer betreten. Sie setzte sich auf eine weiche Matratze, Lorsan und Anavi wählten die beiden Stühle, die an dem runden Tisch standen. Neben dem Bett nahm dieser den meisten Platz ein. Großartige Dekorationen suchte sie jedoch vergeblich. Nur hatte sie auf der gesamten Reise bisher keinen großen Luxus in den Dörfern gesehen.
"Das sind viele Fragen, Prinzessin." Lorsan ballte die Hand nervös zur Faust. "Aufgewachsen bin ich in Mida und habe erst vor wenigen Monaten einen Hinweis erhalten, dass ich wohl aus Jona stamme. Aber wie kommt Ihr darauf, dass gerade ich Euer vermisster... Bruder sein soll?"
"Na, ich kann das spüren." Die Prinzessin legte sich die Hand auf die Brust. "Mein ganzes Leben hatte ich immer das Gefühl, dass mir etwas fehlt, weißt du? Und jetzt, also vorher, als wir uns gegenüber standen, da war das Gefühl weg. Also musst du mein Bruder sein. Und lass diesen Prinzessin-Quatsch."
"Das wäre unhöflich.", murmelte der Heiler und senkte den Kopf. Wartete er auf weitere Fragen?
"Verzeiht, Prinzessin, aber Lorsan wurde zur Höflichkeit erzogen." Anavi legte ihre Hand auf seine Faust. Er entspannte sich merklich. "Falls Eure Worte stimmen, dann wird es trotzdem noch seine Zeit brauchen, bis er Euch... anders anspricht."
"Ja ja, verziehen und so." Sie wedelte mit der Hand und wiederholte dann: "Also, wie bist du aufgewachsen? Ein Bauer kann sich bestimmt keine Reise durch zwei Länder leisten."
"Ich..." Lorsan wich dem Blick aus. "Ich möchte nicht über meine Vergangenheit sprechen, Prinzessin. Vergebt mir das bitte. Aber ich bin nicht mittellos aufgewachsen und habe eine gute Ausbildung erhalten. Einen Teil der Reise habe ich mit meiner Arbeit als Heiler finanziert.""Heiler..." Der Blick der Prinzessin wurde wieder nachdenklich. Schon zuvor hatte sie das Wort genauso gebraucht. Fragend sah Anavi zu Lorsan. Er schein es auch nicht deuten zu können.
"Ja, Heiler. Ist das... ungewöhnlich?"
"Hm?" Die Prinzessin sah auf, als hätte man sie erst aufgeweckt. Sie sah einen Moment zwischen ihren Gegenüber hin und her, dann lachte sie. "Nein, nicht ungewöhnlich. Nur selten, einen von außerhalb zu treffen. Ich bin nicht oft außerhalb des Waldes."
"Ihr habt Eure Geheimnisse, Prinzessin. Ich habe meine. Einverstanden?"
Sie seufzte. "Meinetwegen. Aber in die Stadt begleitet ihr mich trotzdem. Sollen doch unsere Eltern bestätigen, wer du bist. Und nenn' mich Sylvana. Macht Lorik doch auch.""Und wenn Ihr Euch doch irrt, Prinzessin? Können wir dann weiter?" Anavi konnte die Sorgen des Heilers fast greifen. Die Atmosphäre wurde schon zum Schneiden dick. Er wollte sich nicht wieder in die Rolle eines Prinzen drängen lassen. Er wollte nichts mit den Königshäusern und der Politik zu tun haben.
"Sylvana.", erinnerte sie und sah Anavi warnend an. Hatte die persönliche Anrede auch für sie gegolten? "Und natürlich könnt ihr dann gehen. Hält euch ja nichts. Aber ein paar Fragen habe ich noch."
"Sofern wir sie Euch beantworten können." Lorsan hob den Blick wieder. Er musterte die Prinzessin. Suchte er seinerseits nach Ähnlichkeiten? Oder doch nach mehr Unterschieden, um ihre Theorie zu widerlegen? "Und erlaubt Ihr mir ebenfalls ein paar... Fragen?"
"Natürlich." Die Prinzessin grinste wieder. "Was willst du wissen, Bruderherz?"
"Mal angenommen, ich bin Euer Bruder." Er schüttelte kurz den Kopf. "Warum ist Euer Haar weiß und meines nicht?"
"Gute Frage." Sylvana tippte sich ans Kinn. "Das... ist einfach so? Nein, aber ich weiß nicht warum. Ein Priester vermutete mal, dass der Schock über den Verlust meines Zwillings dazu geführt hat. Wer weiß, vielleicht wird es wieder schwarz, wenn wir mehr Zeit miteinander verbringen." Sie grinste wieder. "Oder es liegt an der Magie. Du bist doch auch Magier."
"Heiler. Nicht Magier."
"Sicher?" Die Prinzessin legte den Kopf schief. "Das sollte aber auf beide übertragen worden sein. Sicher, dass du keine Magie beherrschst?"
"Sehr sicher. Es gab genug Momente, in denen ich sie gebraucht hätte."
"Hm. Mida mag keine Magier, wenn ich mich richtig erinnere. Vielleicht hast du... egal. Meine Fragen. Sind wir uns schonmal begegnet?""Nicht, dass ich mich an Euch erinnere."
Sylvanas Blick ging weiter zu Anavi. "Und wir zwei?"
"Wart Ihr schon in Warn, Pri... Sylvana?"
"Warn? Nein. Zu weit weg."
"Dann nicht." Anavi hielt weiter die Hand des Heilers. Sie spürte ein leichtes Zittern von ihm. "Lorsan hat mich gerettet, als ich halbtot am Grenzfluss lag. Meine Erinnerungen reichen nur bis zu dem Moment, als ich aufgewacht bin."
"Oh, so war das." Ihr Blick fiel auf die Hände der beiden. "Und was verbindet euch sonst noch? Werde ich Tante?"
"Ta..."
"Nein, werdet Ihr nicht, Prinzessin.", unterbrach Lorsan und seine Hand verkrampfte sich wieder. "Anavi arbeitet lediglich für mich und wird ebenfalls zur Heilerin ausgebildet. Auch, wenn es in den meisten Ländern so ist, nutzt nicht jeder Mann die Notlage einer Frau aus." Er zitterte.
"Schon gut." Abwehrend hob sie die Hände. "War nicht so gemeint. Zurück zum Thema?"
Lorsan schüttelte den Kopf. "Verzeiht bitte, aber ich brauche eine kurze Pause. Ich muss... an die Luft." Er stand auf, verbeugte sich und hechtete geradezu aus dem Raum.
Einen Moment sah Anavi ihm überrascht nach, dann erhob auch sie sich. "Ich folge ihm, wenn Ihr erlaubt."
"Ja ja." Sylvana winkte zur Tür und Anavi rannte ihm nach durch den Gang und den großen Speisesaal hinaus in den Hof.
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Der verlorene Prinz
FantasyAls Anavi ohne Erinnerung an ihr früheres Leben in der Obhut des Heilers Lorsan erwacht, ahnt sie noch nichts von den Verflechtungen, in die sie geraten ist. Zufälle, die sich häufen. Fremde, die behaupten sie und ihre Vergangenheit zu kennen. Träum...