Die Sonne fiel bereits wieder durch das kaputte Fenster, als der Heiler endlich zurückkehrte. Anavi schloss unwissend wieder die Augen, der Brief lag neben ihr. Es war seine Entscheidung, was er weiter tun wollte.
"Es wurde länger. Verzeih bitte." Lorsan ließ sich auf das Bett sinken und nahm den Brief mit der einen Hand, mit der anderen strich er ihr über den Kopf. "Wann wurde der denn abgegeben?"
"Dir auch einen guten Morgen." Anavi seufzte und sah zu der Nachricht. Neugierig richtete sich ihre Aufmerksamkeit jedoch auf den Heiler. Der las den Brief ruhig, nickte, dann verschwand er im Inneren der Heilertaschen."Was stand da?" Anavi setzte sich auf. Ihr Magen rumorte nicht mehr. Die Vergiftung schien überstanden.
"Nichts wichtiges. Nur, wie es in Mida gerade aussieht." Er log und sagte trotzdem die Wahrheit. Aber es war seine Entscheidung. "Geht es dir inzwischen besser?"
"Ja." Ihr Magen knurrte. "Nur Hunger. Ich habe noch Brot in der Tasche." Sie gähnte und streckte sich, dann stand sie auf. Der Rest war schnell gefunden und stillte ihren Hunger. Lorsans Blick lag jedoch noch prüfend auf ihr.
"Wir können noch einen Tag bleiben, wenn du willst."
"Nicht bei diesem Essen." Sie schüttelte schnell den Kopf, dann bürstete sie sich die Haare. "In einer anderen Herberge gerne, aber so leid mir die Familie tut, hier möchte ich keine zweite Nacht verbringen." Ihr Blick fiel auf das ungenutzte Bett. "Dem Gast vor uns ist bestimmt auch schlecht geworden."
"Der Farbe nach... Gut, dann reisen wir weiter.""Was ist eigentlich mit dem Händler? Geht es ihm und seiner Eskorte auch besser?" Sicher war Lorsan nicht grundlos die ganze Nacht dort geblieben.
"Ja. Aber auch sie wollen nicht länger bleiben. Der Händler hat auch angeboten, dass wir sie eine Weile begleiten können. Einige Tage reisen wir in die gleiche Richtung. Bist du damit einverstanden?"
Anavi nickte. Auch wenn er ihr die Entscheidung überließ war es seine Reise. Er traf Vorbereitungen und wählte Routen. Alles was sie konnte, war ihn zu unterstützen. "Aber... traust du dem Händler? Nicht, dass es keine Waren sind mit denen er handelt."
"Er hat keine Verbindung nach Warn. Er transportiert Güter zwischen grenznahen Dörfern von Ming und Jona. Seine Eskorte deckt auch nur die Strecken auf Jonas Seite ab."
"Verstanden." Sie lehnte sich an die Wand, sah unsicher zur Tür. "Wie kam dieser Brief eigentlich ins Zimmer? Das war doch das Symbol der Organisation."
"Durch die Tür?" Der Heiler lachte und schüttelte den Kopf. "Ich weiß nicht, aber Boten habe ihre Wege." Dann stand er auf und ging ins Bad. "Ich mache mich fertig. Je schneller wir aufbrechen, umso besser. Kannst du mir auch noch ein Frühstück raussuchen?"Sie nickte und kramte noch ein Stück Brot aus den Taschen. Eine von Rosalies Erwerbungen. Eine magische Tasche, die nie ganz voll ist. Auch das Gewicht verändert sich nicht. Sie könnte einen Steinbruch einpacken und weiterhin alles problemlos tragen.
Interessiert strich sie über die Verbindung aus Leder und Stoff. Das interessanteste war, dass jemand, der den Inhalt nicht kannte, auch keinen sehen konnte.
Feder riss sie aus ihrer Betrachtung. Er saß am Fenster und klopfte mit dem Schnabel gegen das Glas, dann in den Raum. Erwartungsvoll, dass ihm jemand das Fenster öffnete.
"Verwöhnter Vogel." Anavi lachte und entfernte die Schnur, die es geschlossen hielt. Mit einem kurzen Krächzen schwang sich der Vogel aus dem Fenster. Der schwarze Punkt verschwand schnell über den Bäumen des umgebenden Waldes, während kalte Morgenluft seinen Platz einnahm.Einen Moment verharrte Anavi am Fenster, betrachtete die Natur unter der weißen Schneedecke. In der Ferne waren weiße Bergspitzen zu sehen. Sie glitzerten, als das erste Sonnenlicht auf Eis und Schnee fiel.. Der Lage nach, waren es die Gipfel der Mittberge nach Mida. Die einzige andere Verbindung nach Süden - und wesentlich gefährlichere.
Auf der Straße vor der Herberge waren bereits die ersten Reisenden zu sehen. Die Brücke hatte ihren Übergang wohl schon geöffnet, die Reisenden würden jedoch frühestens am Abend ihre erste Rast machen. Diese Herberge war also fur Reisende erbaut, die erst Abends das Land betraten oder die Grenze erreichten.
Die wenigen Gäste hatten sicher auch etwas mit der schlechteren Lage zu tun..."Wen beobachtest du?" Lorsan stellte sich neben sie. Die warme Wollkleidung unterschied sich von der üblichen Reisekleidung aus Stoff und Leder. Der Fliederduft hing jedoch weiter um ihn.
"Nur die Natur." Sie legte den Kopf an seine Schulter. "Mida ist so unendlich weit weg... Anmelie und Maia... wie es ihnen gerade geht?"
"Sie sind in sicheren Verstecken. Weder Warn noch Respen kommt in ihre Nähe." Er legte ihr die Hand um die Schulter. Sie wusste, dass er wieder nicht die ganze Wahrheit sagte, aber er sollte ja nicht wissen, dass sie lesen konnte. Warum sträubte sie sich immer noch so sehr dagegen? Sie nickte nur stumm. Er hatte seine Geheimnisse, sie ihre.
"Dann ziehe ich mich besser um. Du willst doch unsere Begleiter nicht länger warten lassen?"
"Eigentlich will ich die Wölfe nur schnell aus dem Stall lassen. Eingesperrt werden sie unruhig." Lorsan lachte und nickte zur Tür. "Ich frage solange, bis wann sie aufbrechen wollen. Komm zum Stall, wenn du fertig bist. Ich hole gleich die Pferde."
"Tu das. Ich werde mich beeilen." Anavi nahm ihre warme Kleidung aus der endlosen Tasche und ging ins Bad. Sie hatte noch genug Zeit, sich Gedanken über den Brief zu machen, wenn sie unterwegs waren. Reichlich Zeit.
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Der verlorene Prinz
FantasyAls Anavi ohne Erinnerung an ihr früheres Leben in der Obhut des Heilers Lorsan erwacht, ahnt sie noch nichts von den Verflechtungen, in die sie geraten ist. Zufälle, die sich häufen. Fremde, die behaupten sie und ihre Vergangenheit zu kennen. Träum...