15 - Ausklang

1 0 0
                                    

Über die Straße, die während der Morgenstunden noch überlaufen war, gingen in der Zeit nach Mittag deutlich weniger Leute. Die meisten hielten sich an den Verkaufsständen auf oder waren in die Gasthäuser eingekehrt. Andere hatten ihre Geschäfte bereits erledigt und die Straße verlassen.

Auch Lorsan führte Anavi zu einem der Stände, von dem ein würziger Duft auf die Straße getragen wurde.
"Das Mittagessen haben wir schon verpasst und Maia wird uns beim Tee nicht vermissen, also können wir gerne noch länger bleiben.", bot er an, während sie auf ihre Bestellung warteten. "Wenn du also noch etwas ansehen möchtest..."
"Ansehen? Mehr Geschäfte oder was meinst du?"
"Auch. Oder ein paar Sehenswürdigkeiten. Der Tempel ist schön. Oder die Kristallbrücke."

"Die Kristallbrücke?" Sie erinnerte sich von Maia davon gehört zu haben. Es war einfach eine Brücke, über die die Waren aus Ming kamen, darunter eine Vielzahl von Edelsteinen, was ihren Namen erklärte. "Die führt doch über die Grenze nach Ming. Und das soll eine Wochenreise entfernt liegen."
Lorsan verzog das Gesicht gequält. "Ertappt. Ich wollte mich einfach davonstehlen. Aber der Tempel liegt in der Stadt. Wir müssten nur der Straße folgen." Eine junge Frau trat zu ihnen an den Stehtisch vor dem Stand und stellte ein Holzbrett mit zwei gefüllten Teigkugeln ab. Nicht ohne Lorsan noch mit einem neugierigen Blick zu mustern ging sie wieder zurück.
"Oh, das Essen ist fertig. Verbrenn dich bitte nicht."

Anavi tat es dem Heiler gleich und nahm eine der Kugeln in beide Hände. Ein würziger Duft drang durch die Kruste und erinnerte ihren Magen an das verpasste Mittagessen. "Den Tempel würde ich gerne einmal besuchen. Ich kenne zwar die Götter nicht, aber es ist sicher lehrreich." Vorsichtig biss sie in die Kugel, worauf die Kruste knusprig zwischen ihren Zähnen aufbrach und das gekochte Gemüse den Weg in ihren Körper fand. "Köstlich.", murmelte sie mit vollem Mund, eine fremdartige Schärfe überraschte sie jedoch und sie musste husten.

"Das passiert am Anfang." Lorsan lachte und klopfte ihr auf den Rücken, bevor er ihr einen Becher Wasser hinhielt. "Gleich ist es besser."
Sie nickte und spülte mit dem Wasser nach. "Du hättest mich warnen können."
"Ich habe es vergessen. Verzeihung."
Anavi winkte mit einem Kopfschütteln ab und aß weiter. Tatsächlich brannte es beim zweiten Bissen nicht mehr. Irritiert sah sie zum Becher. "Ist etwas im Wasser? Es brennt nicht mehr."
"Nein, das liegt an den Gewürzen. Die Mischung lässt den Körper sehr schnell eine Gewöhnung erreichen. Das Wasser verteilt die Wirkung nur schneller.", erklärte der Heiler. "Wenn man es öfter isst, wird man unempfindlicher gegen die Schärfe. Ein Teil der Gewürze findet sich auch in meinen Medizinvorräten. Sie wirken schmerzlindernd und fördern die Heilung."

"Hast du das auch bei mir gemacht? Habe ich deshalb so lange geschlafen?"
"Nein. Dein Körper war sehr erschöpft, als ich dich gefunden habe. Die Heilung hat bereits eingesetzt und weiter an deinen Kräften gezerrt." Er wurde ernst. "Hätte ich dich später gefunden und behandelt, dann wärst du im Versuch dich zu heilen gestorben. Ein merkwürdiger Mechanismus, der Körper, nicht wahr? Er braucht Schlaf, für die Heilung aber im Schlaf kann man die Energie nicht wieder auffüllen."
"Hm, die nicht klügste Entscheidung der Götter.", stimmte sie nachdenklich zu. Wie war das noch? Jedes Land hatte ein Götterpaar?

"Dagegen kann man nichts tun." Er zog zwei Stoffservietten aus einer Tasche und reichte ihr eine, dann putzte er sich die Finger ab. "Wollen wir dann zum Tempel? Nicht, dass uns jemand erwartet."
"Sehr gern." Sie putzte sich ebenfalls die Finger ab, das Tuch steckte Lorsan wieder ein, nahm ihre Hand und gemeinsam folgten sie der Straße.

* * * * *

"Es war ein schöner Tag." Anavi ließ sich unter Maias wachsamen Blick auf ihr Bett fallen. "Mir wurde sogar eine neue Arbeit angeboten."
"Ah, lass mich raten: eine gewisse Hanna hat dir Kleider zum Ändern hingelegt." Maia lachte, während Anavi überrascht zu ihrer Freundin sah. "Woher..."
"Das passiert öfter. Auch wenn Lorsan allein in der Stadt ist, hat er es mir schon erzählt. Gerade vor Festen ist es sehr hektisch."
"Das habe ich bemerkt. An einem Tag fünf Kleider und ich habe erst Mittag angefangen. Aber offenbar habe ich irgendwann nähen gelernt und habe die Arbeit gut gemacht."

"Ah, über deine Vergangenheit hast du also auch etwas gelernt." Maia nickte. "Schön, etwas über sich zu erfahren, nicht wahr. Vor allem, etwas Schönes oder praktisches."
Die Jüngere nickte und schloss kurz die Augen. "Dieser Chevez stammt aus Sora, richtig?"
"Ja. Er ist vor vielen Jahren hierhergekommen und hat als Schneiderlehrling angefangen. In wenigen Jahren konnte er sich selbstständig machen und ist inzwischen über die Grenzen Midas bekannt." Sie seufzte. "Ich würde Sora gern selbst einmal sehen, aber dann könnte ich das Land nie mehr verlassen."

"Gibt es denn einen Grund, warum das Land so verschlossen ist? Warum wollen sie keinen Austausch?"
"Oh Kindchen, darüber gibt es nur Gerüchte. Die einen sagen, die Bewohner Soras würden nach strengen Gesetzen leben, die ihnen einst die Götter auferlegt haben. Andere behaupten, sie hätten den Göttern abgeschworen und folgten den Pfaden der Dämonen. Wer das Land betritt wird ihnen geopfert, wer es verlässt stirbt, wenn er die Geheimnisse verrät." Maia lachte wieder. "Ich denke, sie wollen keinen Krieg und keine Abhängigkeiten. Also gibt es auch keinen Handel oder Kulturaustausch."

"Hm, verstehe." Sie dachte an den Heiler. "So wie Lorsan sich auch von allen fernhält."
"Nein, ich fürchte Lorsans Grund liegt viel tiefer und ist komplizierter. Aber von mir wirst du nichts erfahren. Es ist an ihm, dich eines Tages einzuweihen." Die Ältere wandte den Blick zum Fenster. Die Sonne war bereits untergegangen und erste Sterne funkelten am schwarzen Himmel. "Es ist schon spät. Schlaf jetzt, morgen ruft wieder die Arbeit."

"Nagut. Gute Nacht, Maia."
"Nacht Kindchen."

Anavi hörte, wie Maia sich auf der Matratze umdrehte und legte sich selbst auf die Seite. Eine Weile starrte sie in die Finsternis und ließ ihre Gedanken schweifen. Sie merkte nicht, wie sie irgendwann einschlief.

Der verlorene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt