Fliederbüsche umgaben sie. Ihr Duft lag leicht in der Luft. Sie sollte sich erdrückt fühlen, doch tat es nicht. Das Gras unter ihren Füßen war weich, der Wind bließ sanft durch ihr Haar.
Sie war ruhig, sicher, redete sie sich ein und trat auf einen der Bäume zu. Die Rinde war ungewöhnlich glatt und schien silbern zu schimmern. Die Blätter zwischen den Blüten waren jedoch in einem kräftigen Grün."Hier kommt er auch oft her."
Erschrocken drehte sie sich um. Eine Silhouette stand auf der anderen Seite des Hains. "Er mag den Flieder, weil er so viele ist." Die Silhouette erschien neben ihr und zupfte eine abgeknickte Blüte von dem Strauch. "In einer Gruppe, einer Familie, ist es sicher." Sie reichte Anavi die Blüten. Viele einzelne, kleine Blüten, die etwas ganzes ergaben.
"Er sucht nach seinem Flieder. Dabei ist das alles so viel größer." Die Silhouette leuchtete ein wenig heller. "Auch du suchst nach deinem Flieder, nicht wahr? Du suchst nach dem, was du verloren hast."Anavi sah auf die Blüten und schüttelte den Kopf. Sie sprach auf ihre Erinnerungen an, doch auf diese verzichtete sie dankend.
"Du scheinst das Rätsel noch lösen zu müssen. Das ist in Ordnung. Nimm dir die Zeit." Die Silhouette legte die Hand auf ihren Arm. "Doch dieses Leben musst du es lösen. Und vergiss nicht, dass die Vergangenheit nicht verändert werden kann. Nur in der Zukunft kannst du es besser machen."Anavi nickte, worauf das Licht heller wurde und sie verschluckte.
Anavi wusste nun, dass es ein Traum war. Sie wusste, dass die Stimmen um sie herum nur Teil der Erinnerung waren, dass das verschimmelte Brot vor ihr nur eine Illusion war. Sie saß auf dem Boden, ein silber schimmernder Teller vor ihr.
"Iss. Das ist alles für heute." Der Schattenmann sah auf sie nieder, die Augen leuchtend. "Nimm es an, oder es gibt Konsequenzen."
Stumm pfückte sie die Scheibe auseinander, schob nur die Stücke zwischen die Zähne, die nicht von dem weißen Flaum überwachsen waren. Es war nicht viel und füllte ihren Magen nicht, aber es war besser als nichts.Ob es Zufall oder Absicht war wusste sie nicht, als schwere Stiefel den Teller wegtraten. Klirrend endete das Metall in der Mitte des Raumes. Sie wagte es nicht aufzusehen. Jeder Blick konnte sie das Leben kosten.
"Sie bleibt.", knurrte der Schattenmann, als der Fremde nach ihr treten wollte. "Was willst du?"
"Es gibt Fragen." Sie spürte den Blick des Fremden. "Warum wir unser wertvolles Essen mit diesem Ding teilen sollen? Haltet Ihr sie wirklich für nützlich?"
"Sie hat ihren Zweck. Du willst doch auch weiter beliefert werden. Ich kann natürlich deinen Anteil stark kürzen." Der Schattenmann griff in Anavis Haar und zwang sie den Fremden anzusehen. Doch auch er wurde von Schatten bedeckt. "Erwärmt ihr Anblick nicht das Herz eines Prinzen. Wenn sie alt genug ist, wirst du es schon sehen."
Er ließ sie wieder los und die Umgebung veränderte sich.Anavi hing nur noch in den Ketten, während die Peitsche weiter auf sie niederschlug. Sie spürte das warme Blut über ihren Rücken laufen, hörte das stete tropfen auf den Stein, zwischen den Schlägen.
Warum bestrafte man sie nochmal? Wie lange ging es schon so? Wie oft hatte man sie mit einem Schwall Wasser geweckt, wenn sie ohnmächtig wurde?"Was tust du da?" Die Stimme des Schattenmannes unterbrach die Folter. "Wer hat das erlaubt?"
"Ich, Herr. Dieses Ding hat Reste von den Tellern gestohlen. Sie wurde erwischt und bestraft, genau wie alle anderen." Ein Röcheln unterbrach ihn.
"Wie mit ihr verfahren wird liegt in meiner Hand.", knurrte der Schattenmann. "Sie wird nicht zerstört, solange sie uns von Nutzen ist." Ein unschönes Knacken erfüllte den Raum, dann der dumpfe Aufprall eines toten Körpers auf den Stein.
"Glückwunsch, du wurdest befördert. Jetzt schaff sie zu einem Heiler. Ich will keine Narben mehr sehen, oder du folgst dem Versager!"
"Ja, Herr." Die neue Stimme löste ihre Ketten.Finsternis umfing sie. War sie ohnmächtig? Oder der Traum vorbei?
"Nimm dir die Zeit. Du wirst es lösen, auch wenn es schwer erscheint, Anavi.", flüsterte die Stimme. "Aber folge nicht dem falschen Weg, mein Kind. Er kann dich auf düstere, verlorene Pfade führen."
Anavi nickte, dann löste sich die Dunkelheit in Zwielicht und sie öffnete die Augen.
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Der verlorene Prinz
FantasyAls Anavi ohne Erinnerung an ihr früheres Leben in der Obhut des Heilers Lorsan erwacht, ahnt sie noch nichts von den Verflechtungen, in die sie geraten ist. Zufälle, die sich häufen. Fremde, die behaupten sie und ihre Vergangenheit zu kennen. Träum...