Stumm trug Lorsan sie in ein Haus, über eine Treppe und in einen Raum. Ein einfacher Raum mit nicht mehr als drei Betten. Auf dem am weitesten entfernt von der Tür, legte er sie ab, lächelte. "Alles gut.", versprach er und löste die Kordel, die das Kleid hielt. "Hauptsache, du bist nicht verletzt, oder?"
Sie schüttelte den Kopf und setzte sich auf. "Nur... erschrocken. Was war denn los?"
"Menschenhändler." Er seufzte. "Sie haben ein paar Gäste erwischt, wurden dabei gesehen und dann ist Panik ausgebrochen. Genaueres wissen wir frühestens morgen. Rosa hat kurzfristig die Leitung übernommen und wollte gerade einen Suchtrupp losschicken, als du uns gefunden hast."
"Flieder." Sie lächelte um die schlechten Erinnerungen zu überdecken. "Der Fliederduft hat mich das letzte Stück geführt. Es ist wirklich erstaunlich."
"Ganz deiner Meinung. Und dabei nutze ich nichts mit Düften." Der Heiler lachte kurz und strich ihr über den Kopf. "Verrätst du mir noch, wie du dich befreit hast?"Anavi verzog den Kopf. Noch ein Gefühl wurde ihr gerade erst bewusst. "Ich habe ihn getreten, als er mich geküsst hat." Sie deutete auf den Schritt des Heilers. "Dahin. Dann wollte ich loslaufen, aber er hat mein Kleid festgehalten und da habe ich zugestochen." Ein Schaben war zu hören gewesen. Das Metall der Klinge hatte wohl einen Knochen getroffen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
"Gut, dass Faria dich ausgebildet hat. Ich hätte das wohl vergessen." Wieder klopfte er ihr sanft auf den Kopf. "Gut gemacht.""War das... ein Lob? Wofür?" Überrascht sah sie ihn an, er schüttelte jedoch nur den Kopf und löste seine eigene Festkleidung. Der Mantel war leicht zu lösen und zu entfernen. Darunter trug er diesmal jedoch nur eine Hose. Anavi hingegen raffte das Kleid auf und betrachtete den Saum. Wie vermutet war es ein Stück eingerissen und noch dazu verdreckt. Das konnte teuer werden, wenn sie es zurückbrachten. "Ich werde das bezahlen. Auch, wenn mein Leben nicht lang genug ist.", murmelte sie zu sich und wickelte sich aus. Zum Glück hatte sie heimlich ein leichtes Unterkleid angezogen, sodass sie nun nicht völlig nackt im Raum stand.
"Du kannst anbieten, es selbst zu reparieren." Lorsan setzte sich wieder neben sie und besah sich den Schaden. "Im Zweifel übernehme ich die Kosten. Vielleicht ist Chavez auch nachsichtig, wenn er die Umstände kennt."
"Vielleicht." Sie würde trotzdem anbieten es abzuarbeiten. Ein paar Monate waren sie ja noch hier. Erschöpft lehnte sie sich an den Heiler. Seine Haut war warm und der Flieder beruhigte sie wieder. Wäre da nicht...
"Dieser Mann... er hat den ganzen Tag ruiniert. Das ganze Fest." Sie wollte wütend auf ihn sein, doch es kam nichts. "Und er hat meinen Wunsch ruiniert." Jetzt brodelte es doch in ihr. "Wenn sie ihn finden, dann will ich ihm das sagen.""Was war denn dein Wunsch?" Lorsan nahm ihr Kleid und faltete es über die Lehne eines Stuhls. "Wolltest du nie jemanden verletzten?"
"Nein..." Sie sprach leise und zog die Beine an. Den Kopf legte sie auf die Knie und beobachtete den Heiler. "Es... ist unangenehm."
Einen Moment herrschte Stille. "Ich denke, ich kenne deinen Wunsch." Langsam drehte er sich um und kam zurück. "Und ich weiß, warum er ihn ruiniert hat." Neben dem Bett ging er in die Hocke und drehte eine ihrer Haarsträhnen zwischen den Fingern. Auch auf die waren mehrere Leute getreten. Die restlichen Schmerzen, waren plötzlich verschwunden. Vielleicht war es die Angst?"Ich sagte doch, dass es unangenehm ist." Sie wollte nicht zu ihm sehen. "Vergiss, was ich gesagt habe."
"Nicht, wenn du deswegen traurig bist, Anavi."
"Nicht traurig. Wütend." Sie wollte ihn nicht zu etwas zwingen, nur weil sie einen naiven Wunsch in ein Feuer geworfen hatte. "Was war denn deiner?"
"Etwas zu finden, das ich verloren habe." Er erhob sich und setzte sich wieder neben sie. Neugierig sah sie nun doch hin.
"Etwas, das du verloren hast? Meinst du... Adi?"
"Es... hat mit ihr zu tun, ja. Aber sie kann mir fernbleiben. Falls sie noch lebt." Diesmal war er es, der sich anlehnte. "Vielleicht war der Wunsch auch verschwendet...""Ich wollte... einen Kuss. Von dir..." Sie glaubte, seine Geschichte langsam zu verstehen. Sicher war es Adi, die ihm das Herz gebrochen hatte. Vielleicht wollte er wieder vertrauen können. "Aber... das war naiv, oder?"
"Vielleicht nicht." Er berührte vorsichtig ihr Kinn, das die überrascht gehoben hatte, und drehte ihr Gesicht zu sich. "Vielleicht erfüllt er sich."
Stumm starrte sie ihn an. Einen Scherz durfte er sich mit ihr nicht erlauben, doch das verrieten seine Augen nicht. Sie waren klar, ehrlich und ein wenig glitzerten sie wieder. Das Licht im Zimmer zeigte viel, als er ihr naher kam. Ihr Herz schlug sofort schneller, als es die Situation erkannte. Es raste und zog alle Energie ab."Du... musst nicht..." Sprach sie laut oder waren es nur Worte in ihrem Kopf? Gedanken, die nicht über ihre trockenen Lippen drangen?
"Lorsan..." Ganz sanft berührte er sie. Erst zaghaft, dann fester. Entspannt schloss sie die Augen, lehnte sich gegen ihn und erwiderte den Kuss.
Etwas in ihr reagierte von selbst. Sie nahm in an den Armen und ließ sich auf das Bett fallen. "Eine Nacht?", hauchte sie als er den Kuss unterbrach. Hoffentlich nicht, wegen ihrer Reaktion.
"Ist das klug?" Er lächelte. Es war sicher nicht klug, aber das war egal. "Bist du sicher?"
Sie nickte knapp und zog ihn an sich. "Es muss niemand erfahren."
Er sah zur Seite, schloss einen Moment die Augen. "Anavi... willst du nicht warten? Was, wenn du jemand anderen findest? Wer sagt, dass deine Gefühle echt sind?"
"Ich sage es." Nun war sie es, die seinen Blick auf sich lenkte. "Ich will niemand anderen."
"Ich kann dir nichts bieten. Werde ich vielleicht nie können."
"Dann ziehen wir in eine Hütte im Wald." Sie lächelte. "Nur du und ich und die Wölfe. Oh, und Feder. Und die Pferde? Und..."
Ein weiterer Kuss ließ sie schweigen. Auch die restliche Nacht drang kein klares Wort mehr über ihre Lippen.
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Der verlorene Prinz
FantasyAls Anavi ohne Erinnerung an ihr früheres Leben in der Obhut des Heilers Lorsan erwacht, ahnt sie noch nichts von den Verflechtungen, in die sie geraten ist. Zufälle, die sich häufen. Fremde, die behaupten sie und ihre Vergangenheit zu kennen. Träum...