"Ganz knapp." Der Waffenmeister trat nah an die Zielscheiben heran. "Fast gleichauf bei Lorsan und Anavi. Aber..." Er sah den Heiler an, als wisse er genau, dass er absichtlich etwas daneben gezielt hatte. "Bei Anavi ist der letzte Pfeil näher am Ziel. Glückwunsch, Mylady." Höflich verbeugte er sich und begann dann mit seiner Arbeit. Er zog die Pfeile aus den Strohscheiben und nahm die Bögen wieder an sich.
"Glückwunsch." Lorsan lächelte und klopfte der jungen Frau auf die Schulter. "Ein knapper Sieg, aber ein Sieg."
"Nur weil du absichtlich falsch geschossen hast." Rosalie schubste ihn freundschaftlich, was er lachend aufnahm.
Anavis Überraschtheit verschwand mit einem Schlag. "Du hast absichtlich verloren?" Unsicher wandte sie den Blick ab. So wollte sie ihr Können nicht zeigen. War das nicht sogar Betrug?"Ich wollte dich ablenken. Hätte sie nichts gesagt, hätte es auch geklappt."
Sie hob wieder den Blick, dann stahl sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. "Die Ablenkung hat funktioniert. Aber... ich hätte das vorhin trotzdem nicht tun dürfen."
"Ach, vergiss es einfach." Rosalie legte die Arme um sie und zog sie in eine feste Umarmung. War auch irgendwie meine Schuld, oder? Dabei mag Lorsan dich viel mehr als er zugibt und..." Lorsans Hand legte sich auf ihren Mund und der Heiler zog sie zurück. Dabei musste sie auch die Umarmung lösen und Anavi fand wieder Luft, die schnell in ihre Lungen strömte. Die Kriegerin hatte doch nicht gerade versucht sie zu ersticken? Nicht wegen eines verlorenen Wettkampfs."Ich arbeite nur für ihn." Das hatte sie bestimmt schon öfter erwähnt. Nur schien es niemand zu glauben. Auch Anna hatte sie einen Moment zweifelnd angesehen. "Und wir sind Freunde. Nicht mehr."
Abgehackte Laute kamen von Rosalie, der Lorsan noch immer den Mund verbot. Es erstaunte Anavi schon, dass der Heiler sie so mühelos halten konnte. Dann verdrehte sie die Augen, hob die Hände ergebend und wurde freigelassen. "Fester Griff.", stellte sie fest und grinste. "Ich sag schon nichts mehr. Findet selbst was raus." Mit einer Hand strich sie sich das Haar zurück, die andere schnellte an ihre Hüfte. Im nächsten Moment spürte Anavi kaltes Metall an ihrem Hals und einen Arm, der sie von hinten umklammerte."Was machst du?" Rosalie hielt sie fest, selbstständig entkommen konnte und die Frau verletzen wollte sie nicht. Lorsan hingegen sah gelassen zu ihnen, fragend hob eine Augenbraue. "Sollte ich etwas machen?"
"Ach komm." Das Kichern passte nicht zu ihrer plötzlichen Rolle. "Ich bin ein Räuber und drohe dir. Was machst du?""Ich? Kommt darauf an, was du willst." Lorsan ließ die Hand an seine Hüfte wandern. Unmerklich sah er Anavi an und klopfte zweimal auf sein Bein, dann zog er einen kleinen Beutel vom Gürtel. Schlief er damit etwa auch? "Ich kann sie freikaufen. Hier. Fang."
Damit warf er ihr den Beutel zu, perplex fing Rosalie ihn auf, musste dafür jedoch Anavis Umklammerung lösen. Die reagierte schnell, zog Farias Klinge aus der Halterung an ihrem Bein und drehte sich von der Klinge weg. Kurz ritzte sie die Haut auf, doch sie befand sich schon außer Reichweite, der Dolch gegen die Kämpferin gerichtet.
"Gewonnen.", fasste der Heiler zusammen, Rosalie grinste. "Nicht schlecht, gute Taktik." An Anavi gewandt bemerkte sie noch: "Lass den Schnitt versorgen. Aber wenn du den Arm mit der Klinge erst wegdrückst, lässt sich sogar das vermeiden." Sie warf das Säckchen zurück. "Das war aber zu leicht für Münzen. Du trägst nicht überall Kräuter mit dir herum?"
"Und wenn?" Lorsan verstaute das Säckchen und nickte in Richtung des Hauses. "Lasst uns reingehen. Das Frühstück wartet sicher schon. Und außerdem wolltest du eine Vermutung bezüglich Anavis Träumen mit uns teilen.""Gut gut." Rosalie hob die Hände und trottete langsam vor, zurück in das Anwesen und den Speisesaal. Der Tisch war bereits gedeckt, Angestellte nicht zu sehen. Lorsan entschuldigte sich dabei kurz und verschwand, was Anavi mit der Kämpferin allein ließ. Sand vom Training klebte noch immer an ihrer Kleidung.
"Hast du eigentlich noch mehr von diesen Träumen? So, wie die brennende Scheune?" Rosalie zog ihren farblosen Brei zu sich und garnierte ihn mit Früchten, während ihr Blick neugierig auf Anavi lag."Ja. Irgendwie." Nervös sah sie zur Tür, durch die der Heiler verschwunden war. Rosalie erschien ihr plötzlich viel gefährlicher, nachdem sie den Kampf gesehen und ihre Kraft gespürt hatte. Dazu noch diese unheimliche Magie.
"Ich weiß, was du denkst, Anavi." Rosalie lächelte kühl, es erreichte nicht ihre Augen. "Dir ist klar geworden, wie gefährlich ich bin. Welche Macht in mir ruht und was diese für die Welt bedeuten könnte. Ich würde sagen, du planst gerade Lorsan zu bitten, schnell weiter zu ziehen, weil du fürchtest ich könnte euch verraten." Der Löffel zog Kreise im Brei. Anavi schüttelte eilig den Kopf und senkte den Blick. Hatte sie zuvor Hunger oder war nervös war nun beides einer tiefsitzenden Angst gewichen.
"Anavi..." Rosalies Stimme schien von überall zu kommen. "Was verbirgst du, Kleine? Welches Geheimnis soll Lorsan nicht kennen?""Kein Geheimnis. Ich bin ehrlich zu ihm." Allein das war eine Lüge. "Er weiß, was ich weiß." Erschrocken sprang sie auf, grün-schwarzer Nebel über den Boden kroch, das Holz knarzte, Steine knackten.
"Anavi." Nun klang sie enttäuscht. "Weißt du nicht, dass Magier Lügen erkennen? Und Geheimnisse. Ich weiß, dass du etwas verbirgst. Bist du eine Gefahr für meinen wunderbaren, kleinen Bruder?" Rosalie rührte sich nicht, doch der Nebel ging ganz klar von ihr aus.
"Ist das... Rache für den Wettkampf? Ich bin keine Gefahr. Ich... weiß selbst nicht, wer ich bin. Ich..." Faria hatte genauso reagiert, erinnerte sie sich. Auch sie hatte ihr ein Geheimnis vorgeworfen. "Ich kann lesen. Das ist mein Geheimnis."Abrupt blieb der Nebel stehen, im nächsten Moment löste er sich auf. "Ich hatte irgendwie etwas... bewegenderes erwartet. Das ist alles? Enttäuschend." Rosalie zuckte mit den Schultern und fing an, den Brei zu löffelweise zu vernichten. "Keine Sorge, ich werd ihm nichts sagen." Gelangweilt deutete sie auf den Stuhl. "Jetzt setz dich schon. Er kommt gleich und du willst mich nicht verraten." Ihre Augen verdunkelten sich. "Oder?"
Sofort schüttelte Anavi den Kopf und trat zurück an den Tisch. Wesentlich weiter von der Kriegerin entfernt nahm sie wieder ihren Platz ein und legte sich eine Scheibe Brot auf den mitgenommenen Teller. Der Appetit war ihr zwar vergangen, aber der Heiler sollten keine Verdacht schöpfen. Nur war ihr Rosalie nun noch unheimlicher und der Nebel wurde sie mit Sicherheit in die nächsten Träume verfolgen.
Die Prinzessin war zweifellos niemand, den man sich zum Feind machen wollte.
DU LIEST GERADE
Der verlorene Prinz
FantasyAls Anavi ohne Erinnerung an ihr früheres Leben in der Obhut des Heilers Lorsan erwacht, ahnt sie noch nichts von den Verflechtungen, in die sie geraten ist. Zufälle, die sich häufen. Fremde, die behaupten sie und ihre Vergangenheit zu kennen. Träum...