Es war kein schöner Anblick, als sie in den Gastraum kamen. Um einen der Tische lagen blutige Tücher, darauf das Mädchen, das Hylia in den Stall gebracht hatte. Ihre Mutter saß auf einem Stuhl, weinte aufgelöst. Um das Mädchen standen drei der Söldner und mehrere Dorfbewohner.
"Der Heiler! Lorsan!" Lurs winkte ihnen, was ihre Schritte beschleunigte. Bereitwillig machte man ihnen Platz. "Gut, dass ihr da seid. Sie wurde von einem Löwen angegriffen, als sie Wasser holen war. Das Dorf macht schon Jagd auf ihn."
"Tiefe Wunden, viel verletzt." Lorsan strich über die aufgerissene Brust, seine Finger färbten sich rot. "Keine Organe, aber sie verliert viel Blut." Sofort drückte er weitere Tücher auf die Wunden. "Ich muss sie reinigen. Zwei drücken weiter das Blut ab, der Rest schafft mir sauberes, heißes Wasser her. Zwei... Nein, besser drei Kessel. Einer über ein Feuer. Und mehr Tücher. Anavi hat schon nach dem Dorfheiler schicken lassen. Los!"Sofort zerstreute sich die Menge und er drückte Anavi ein Messer in die Hand. "Ich muss an die Wunden. Hol sie aus den Kleidern. Die vielen Schichten, haben sie zwar gerettet, im Moment bringt es sie um."
"Ich?" Unsicher sah sie auf die Klinge. Es war ein gewöhnlicher Dolch. Sie konnte damit umgehen, aber in so einem Notfall?
"Ja, du. Ich muss die Kräuter vorbereiten." Er nahm ihre zitternden Hände, das Blut klebte nun auch an ihr. "Du machst dabei bestimmt keine Fehler. Vorsichtig eine Schicht nach der anderen."
Anavi nickte, starrte auf das Mädchen. Ida. Sie war fröhlich und freundlich, wo ihre Schwester schüchtern war. Am Tag zuvor hatte sie sich noch für die Hilfe bedankt, bevor der Heiler mit der Arbeit an ihrem Vater angefangen hatte. Sie hatte auch keine Scheu vor den Wölfen gezeigt. Wieder nickte sie, macht sich selbst Mut. "Ich... muss nur die Wunden freilegen..." Tief atmete Anavi ein und aus.
"Genau. Schneid die Kleider auf. Wir ersetzen sie, sobald wir fertig sind." Lorsan lächelte, drückte ein weiteres Mal ihre Hände und löste sich dann.Abgewandt wischte er sich die Hände ab, holze Kräuter und Pulver aus seiner Tasche und reihte alles ordentlich auf.
Anavi sah auf den Dolch, dann trat sie an das Mädchen heran. Sie setzte die Klinge an, durchtrennte die oberste Schnürung des Kleides und klappte es um. Dann folgte die zweite Schicht.
Abwechselnd mit dem Wechseln der Tücher entfernte sie eine Stoffschicht nach der anderen und erkannte, warum ihr die viele Kleidung gegen die morgendliche Kälte das Leben gerettet hatte. Die Krallen oder Zähne des Tieres hatten viel Stoff getroffen. Zwar war alles sauber durchtrennt, es hatte jedoch Energie verloren. Alles was blieben waren drei tiefe Wunden auf der Brust. Tief genug, um den blutverschmierten Knochen in der Mitte zu erkennen. Wieder zitterte sie und hielt inne. Sie musste dem Mädchen helfen. Angst und Ekel hatten keinen Platz. Sie hatte auch schon einen Knochen getroffen, als sie sich von dem Angreifer auf dem Schneefest befreit hatte. Das Geräusch spürte sie noch in ihrer Hand. Doch dies war kein Feind sondern ein verletztes Kind."Fertig." Sie hörte, dass ihre Stimme dünn klang. Lorsan hob den Kopf und sah von dem kochenden Kessel auf. Der Duft von Kräutern erfüllte den Raum, mischte sich mit Flieder.
"Sehr gut." Er hievte den Kessel vom Feuer und füllte kleine Holzschüsseln mit dem Sud. Je zwei davon drückte er den Dorfbewohnern in die Hand und wies an, sie in den Schnee zu stellen. Sie sollten sie wiederbringen, wenn sie abgekühlt waren.
Dann tränkte er ein Tuch mit einer klaren Flüssigkeit aus einer kleinen Glasflasche und tupfte über die Wundränder. "Verringert die Blutung.", murmelte er leise. "Und hält Schmutz fern." Mit den Fingern griff er nach Idas Handgelenk, schien einen Moment nichts zu tun, dann wurde sein Blick gehetzt. "Sucht den Heiler!", rief Lorsan gehetzt. "Er muss sich beeilen."Die Hälfte der Leute lief wieder raus und Anavi stellte sich neben ihn. "Was ist los? Stirbt sie?" Sie sprach besonders leise, doch die restlichen Leute waren mehr mit der Wirtin beschäftigt, als dem fremden Heiler.
"Sie wird schwächer. Die Wunde muss sofort verschlossen werden." Sein Blick huschte kurz zu seiner Tasche und er sprang auf. Schnell suchte er nach etwas, zog zum Schluss einen kleinen Stoffbeutel hervor und daraus einen dunklen, grün schimmernden Stein.
"Bitte funktioniere..." Nur Anavi hörte seine Worte, als er den Stein in die Hand nahm, die Augen schloss und sich konzentrierte.
Sanftes Licht drang aus seiner Hand, legte sich über die Wunde. Lichtfäden traten aus dem aufgerissenen Fleisch hervor, verbanden sich zu einem hellen Netz. Sie spürte die Magie, die vom Heiler ausging, die schwerste Wunde schloss, bis das Licht erstarb.
Lorsan ließ die Hand sinken, legte den nun nur noch schwarzen Stein zur Seite und atmete tief aus. Wieder prüfte er ihr Gelenk und nickte diesmal. Eine gelbe Paste fand ihren Weg auf die kleineren Wundränder."Ein... Magiestein?"
"Aufgeladen mit Heilmagie. Für Notfälle."
"Wie viele hast du?" Sie sah auf den Beutel. Er schien fast leer zu sein, obwohl er nur einen verwendet hat.
"Nicht genug." Er reichte ihr den Rest. "Leg sie zurück, ja?"
Sie nickte und sah zur Wunde. Die Blutung war zurückgegangen, aber eine deutliche Veränderung wie bei Arus Heilmagie war nicht zu sehen. Wenigstens war der Knochen verschwunden.
Gerade als sie den Stoffbeutel zurückpackte wurde die Tür zum Gastraum schwungvoll aufgestoßen. Arus, der sich für sein Alter schnell bewegte kam herein gestürzt und stellte sich sofort Lorsan gegenüber an den Tisch.
"Armes Mädchen." Der Alte strich Ida über den Kopf. Dann streckte er seine Hand aus. Wieder breitete sich Licht aus, erfasste die Wunde und schloss sie langsam. Auch Anavi schloss die Augen, spürte die Magie und prägte sich das Gefühl ein. Vielleicht konnte sie auch ohne passende Begabung selbst diese Magie lernen. Wenn sie das Gefühl des Heilens kannte und es selbst auslösen konnte, war sie wirklich Lorsans Assistentin und konnte ihn besser unterstützen.Als die drei Wunden verschlossen waren, endete auch der Zauber. Sichtlich müde ließ sich der Dorfheiler auf den nächsten Stuhl sinken, das zufriedene Lächeln war jedoch trotz Bart nicht zu übersehen.
"Sie lebt. Sie erholt sich.", bestätigte Lorsan und prüfte ihr Leben nun, indem er zwei Finger an ihren Hals drückte. "Aber sie wird noch eine ganze Weile schlafen."
"Sie... überlebt..." Die Wirtin stand auf, jedoch gestützt von einem der Söldner, und kam zu ihrer Tochter. Wieder weinte sie, als sie ihre Hand nahm. Lurs klopfte Lorsan auf die Schulter und nickte Anavi zu. Ein Felsen rollte von ihrem Herzen. Vielleicht ein ganzer Berg.
"Arus hatte die schwerste Aufgabe." Lorsan schob das Lob von sich, was den alten Heiler wieder lächeln ließ.
Jetzt musste der Löwe nur noch gefangen werden, damit nicht der Nächste von ihm angegriffen wurde.
DU LIEST GERADE
Der verlorene Prinz
FantasyAls Anavi ohne Erinnerung an ihr früheres Leben in der Obhut des Heilers Lorsan erwacht, ahnt sie noch nichts von den Verflechtungen, in die sie geraten ist. Zufälle, die sich häufen. Fremde, die behaupten sie und ihre Vergangenheit zu kennen. Träum...