"Ein Heiler, der wohl die Königin retten könnte...", hatte die Wirtin lachend gesagt und sie verabschiedet.
Zwei Tage war es her, das letzte Stück ihrer Reise hatten sie angebrochen, doch ihre Worte verfolgten Anavi weiterhin. Und nicht nur diese. Die Kreatur, die Ida angegriffen hatte sah sie noch deutlich vor sich. Die siegreichen Dorfbewohner hatten das schwarze Fell der Kreatur auf dem Dorfplatz aufgehängt.
"Woran denkst du?" Lorsan sprach sie unvermittelt an, ritt dicht neben ihr und hatte nach Hylias Zügeln gegriffen. Das Pferd lief gerade, doch die Ablenkung ihrer Reiterin hatte sie nervös gemacht.
"Finsterlöwen..." Anavi klopfte beruhigend an Hylias Hals. Es galt mehr ihr selbst, als der Stute, als sich endlich vor ihnen der Wald der Hauptstadt erhob. Der Schnee lag kaum noch auf den hohen Bäumen.
Sie hatte schon Träume, in denen sie selbst von der Kreatur angegriffen wurde. Lange Klauen bohrten sich in ihr Fleisch, Zähne rissen sie in Stücke.
Selbst Sun und Sur schienen unruhig und bewegten sich nicht mehr weit von der Gruppe weg. "Sicher, dass wir keinem begegnen?" Arus hatte erzählt, dass sie nie allein jagen. Das meiste kannte er selbst aber auch nur aus Geschichten. Finsterlöwen waren schon lange nicht mehr gesehen worden.
"Leider nicht. Aber sie sollten sich nicht in die Nähe des Waldes wagen." Grüne Blätter streckten sich ihnen entgegen. Kurz fasste der Heiler sich an den Kopf, als sie den Waldrand überschritten, dann lachte er. "Otis... Ich kann nicht glauben, dass wir schon hier sind.""Du lenkst ab." Anavi hob die Hand und zupfte ein Blatt von einem tiefhängenden Ast. Ein Teil der Gedanken noch bei den fremdartigen Wesen drehte sie es zwischen den Fingern. "Ich hoffe wirklich, es passiert jetzt nichts mehr. So kurz vor dem Ziel noch umzukehren. Oder..."
"Es sind noch gerade zwei Tage durch den Wald." Der Heiler deutete auf die flachen Steine unter den Hufen der Pferde. "Außerdem führt dieser Weg geradewegs in die Hauptstadt. Wir werden zwar eine Nacht im Wald verbringen, aber das ist nicht weiter schlimm."
Anavi nickte und erinnerte sich an ihren Aufbruch aus Mida. Dort gab es keine regelmäßigen Herbergen und Dörfer. Dieser Luxus hatte sie erst bei ihrer Abreise von Rosalies Anwesen begleitet.
Die Nächte im Wald bei flackerndem Feuer waren ruhig und Lorsan konnte sie von seinen Kochkünsten mit nur einem kleinen Vorrat an Proviant überzeugen.
"Und in welche Gedanken bist du jetzt versunken?""Ich sollte kochen lernen." Sie lachte, das Geräusch hallte zwischen den Bäumen wieder und schreckte kleine Vögel auf. "Wenn ich schon weiter für dich arbeite."
"Das ist nicht schwer. Ich zeig es dir." Der Heiler richtete den Blick zum Himmel. "Es wird langsam dunkel. Die Tage sind so kurz, findest du nicht?"
Anavi folgte seinem Blick. Der Blauton des Himmels wurde tatsächlich etwas tiefer. "Sie sind kürzer. Woher kommt das?"
"Vielleicht die Berge?" Über dem Wald waren einzelne, schneebedeckte Gipfel zu sehen. "Sie lassen weniger Sonnenlicht zu. Oder die Götter haben so entschieden." Er lachte, als hätte er einen Scherz gemacht. "Nein, Götter sicher nicht." Feder landete wieder auf seiner Schulter und ließ sich streicheln. Das Gefieder wirkte in der kalten Umgebung viel dichter, als noch in Mida. Vielleicht flog der Rabe öfter aus, weil ihm sonst kalt wurde.
"Ich finde es einsam." Sie sah zu den Bäumen. "Es ist so still. Nur ein paar Vögel singen und der Wind spielt mit den Blättern..."
"Wir sind auch lange in Gruppen gereist. Du musst dich nur wieder daran gewöhnen." Lorsan lächelte. "Kopf hoch. Wenn wir in der Stadt sind, dann kannst du dich auch wieder unterhalten."
Sie antwortete nicht, gab ihm aber zumindest recht. In der Hauptstadt waren wieder Menschen, die lachten und sich unterhielten. "Wenn der Weg befestigt ist, warum sind wir dann die einzigen Reisenden hier?" Anavi wandte den Blick zu Boden, zu den gleichmäßigen Steinplatten, die den grauen Weg bildeten. Hohl klangen die Hufe der Pferde darauf und übertönten fast die Vögel."Handel gibt es wohl nur selten. Der Wald gibt der Stadt alles, was sie braucht. Jäger streichen abseits des Weges durch den Wald und nutzen ihn zur Orientierung. Auch Reisende betreten oder verlassen die Stadt eher selten." Lorsan strich über Donners Mähne und zupfte ein Blatt heraus, das von einem der Bäume gefallen war. "Jonas Dörfer sind autonom. Das Königshaus unternimmt nur einmal im Jahr Reisen zu ihnen. Industrie und Handel befinden sich an der Grenze. Nur Erze aus den Bergen werden regelmäßiger dorthin transportiert, aber sie durchqueren nicht den Wald."
"Du scheinst dich für Jona wesentlich mehr zu interessieren, als Rosalies Vortrag über die Architektur Mings." Anavi lachte, der Heiler schüttelte den Kopf. "Nein, das ist Teil meiner Ausbildung gewesen. Obwohl... ich glaube, einmal habe ich den König von Jona gesehen. Er kam zu Ricimer um eine engere Verbindung der Länder zu besprechen."
"Engere Verbindung?" Vermutlich sollte eine Ehe die Königshäuser verbinden.
"Respen sollte die Prinzessin heiraten. Aber zum Glück wurde nichts daraus." Gequält lächelte er. "Das arme Ding hätte keine drei Tage ausgehalten, geschweige denn ein ganzes Leben."
"Und dich wollte man nie an die Nächstbeste bringen? Als zweiter Prinz wäre das doch ein Weg gewesen." Anavi verstand zwar nicht viel, von der Politik solcher Verbindungen, aber das sollte doch zusammenhängen.
"Mich gab es nicht, Velitia sei Dank. Kein zweiter Prinz, keine Kandidaten. Obwohl ich Ricimer zugetraut hätte, mich bei einer günstigen Verbindung aus dem sprichwörtlichen Hut zu ziehen." Diesmal war es ein ehrliches Lächeln. "Ich will aber auch keiner Frau zumuten, ständig an meiner Seite zu sein."
"Maia ist geblieben.", erinnerte sie. "Und ich bin auch noch da. Ich denke nicht, dass du ein so schlechter Ehemann wärst."
"Aber ihr wurdet bezahlt. Beide. Auch du bekommst noch deinen Lohn, wenn ich etwas verdiene. Ihr beide hättet jederzeit gehen können, und das macht den Unterschied."Anavi schüttelte den Kopf und deutete dann auf einen kleinen Trampelpfad abseits des Weges. "Wir drehen uns doch nur im Kreis. Lass und rasten und morgen endlich zur Stadt kommen. Es wird Zeit, dass du dein Ziel erreichst."
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Der verlorene Prinz
FantasyAls Anavi ohne Erinnerung an ihr früheres Leben in der Obhut des Heilers Lorsan erwacht, ahnt sie noch nichts von den Verflechtungen, in die sie geraten ist. Zufälle, die sich häufen. Fremde, die behaupten sie und ihre Vergangenheit zu kennen. Träum...