"Deine Theorie, Rosa. Weihe uns ein.", lenkte Lorsan das Thema, als sie sich nach dem Frühstück in einem kleinen Salon eingefunden hatten. Rosalie auch endlich in neuer, sandfreier Kleidung. Anavi blieb ihr trotzdem fern. Sie saß neben Lorsan auf einem bequemen Sofa und mied den Blick der Kämpferin. Der Heiler hatte die restlichen Träume knapp zusammengefasst.
"Schon gut." Sie schob einen Teller Kekse in die Mitte des runden Tischs. "Nach dem, was ihr mir über die Träume erzählt habt, dürfte sie eine Seherin sein. Sie hat immer vergangene Ereignisse gesehen und sie konnte nur Dinge und Personen erkennen, an die sie sich aktiv erinnert. Das ist eine magische Begabung. Jedoch... eine passive Ausprägung der Magie. Sie ist nicht in der Lage die Erinnerungen zu steuern. Und es müssen auch nicht zwingend ihre eigenen sein."
Ihre eigenen? Anavi horchte auf. Hatte die Stimme nicht etwas in dieser Richtung erwähnt? Dass nur die richtigen Fragen gehört werden?
"Und der Flieder? War das auch ein Teil dieser Begabung?" Erstaunlicherweise hatte der Heiler die Blüten behalten. Und in den Wochen, seit sie mit der Blume in der Hand aufgewacht war, waren noch keine Zeichen des Welkens aufgetreten."Eine Variation. Ich nehme nämlich auch an, dass du einer Göttin begegnet bist. Das kann Magie... beeinflussen." Rosalie nickte zur eigenen Bestätigung. Sie musste solche Details und Variationen als Magierin natürlich kennen. "Die Göttin hat sie auch nicht welken lassen. Die Magie, die davon ausgeht ist greifbar für Magier. Darum wundert es mich, dass ihr auf der Reise noch nicht angegriffen wurdet. Viele würden töten, für ein Stück den Götterwalds."
"Der Götterwald... das war doch die Heimat der Götter, richtig? Der über unseren Köpfen schwebt." Lorsan drehte den Flieder nachdenklich in der Hand.
Anavi erinnerte sich, dass sie beim Besuch des Tempels auch etwas vom Götterwald gehört hatte. Dass es ein Abbild der ursprünglichen Länder sei. Nach Rosalies Rezitation über die Götter, also ein Ort ohne die breiten Flüsse.
"Mehr eine andere Ebene. Das ist... für Nichtmagier nicht leicht zu verstehen, weil sie nicht hinein können. Magie an sich kommt von dort." Wieder ließ sie demonstrativ den Nebel über ihre Finger fließen. "Jede Magie, selbst meine, hat ihren Ursprung bei den Göttern. Und friedlich zusammen leben sie im Götterwald. Auch wenn sie für die meiste Menschen nicht greifbar sind, existieren sie genau wie wir drei."
"Und der letzte Traum? Du kanntest die Worte, die ich gehört habe." Unsicher rückte Anavi wieder ein Stück zurück, als die Magierin sie ansah. Die Augen noch immer dunkel von ihrer Magie. Diese seufzte jedoch nur und löste den Nebel, ihre Augen wurden wieder hell und wanderten an einer Wand entlang.
"Die kannte ich, ja. Immerhin habe ich sie gehört. Damals. Als die Scheune abbrannte."
"Ich denke, diese Geschichte interessiert uns beide." Lorsan griff nach Anavis Hand. Spürte er ihre Angst vor Rosalie? "Sie wird den Raum auch nicht verlassen."
Rosalie nickte stumm, schloss die Augen und atmete mehrmals tief ein und aus. "Aber nur eine kurze Version. Vieles würde euch wohl... verstören." Sie atmete noch einmal durch, dann wandte sie den Blick zur Decke, als würden dort die Bilder nur für sie erscheinen. "Ich bin Ricimers Tochter, aber er war nie mit meiner Mutter verheiratet. Damals arbeitete sie auf einem der Höfe um die Hauptstadt. Ricimer besuchte genau diesen Hof eines Tages und, um seine Worte zu verwenden, verliebte sich augenblicklich in die schöne, blonde Frau, die die Tiere versorgte." Rosalie schüttelte den Kopf. "Es war eine einseitige Liebe und das geht nie gut. Als er nach einem Jahr immer noch nicht weitergekommen war, hat er sich einfach genommen, was er wollte. In der gleichen Nacht stahl meine Mutter einen Teil des Geldes und Brot von dem Gutsherrn und verschwand. Mich bekam sie heimlich und allein, aber Ricimer wollte sie trotzdem nicht gehen lassen. Er ließ uns jagen... und letzten Endes wurden wir entdeckt." Ihr Blick legte sich auf Anavi, wirkte entschuldigend. "Das, was du gesehen hast, war diese Nacht. Wir schliefen in einer Scheune. Heimlich, da man das Gesicht meiner Mutter auf Plakaten im ganzen Land sehen konnte. Plötzlich hat sie mich geweckt, Rauch hat sich in der Scheune ausgebreitet und sie trieb mich zur Eile, als sich das Feuer schnell ausbreitete. Ich schaffte es raus, dann hörte ich das Summen eines Pfeils und rannte nur noch weg vom Feuer. Aber ich wurde eingefangen. Ein Mann hat mich hochgehoben und gesagt: Das ist weit genug, Prinzessin." Ihrer Augen schimmerten feucht, schnell blinzelte sie und wandte den Blick ab. "Ich wurde in den Palast gebracht und Ricimer hat nicht eine Miene verzogen, als er hörte, dass meine Mutter gestorben sei. Stattdessen hat er mich weitergeschickt und in die Hände der Königin gegeben. Aber sie ist eine gute Frau. Damals waren sie gerade zwei Jahre verheiratet, aber für mich hat sich auch niemand außer ihr interessiert. Sie hat mich jedenfalls unterrichtet und mir auch die Möglichkeit gegeben den Umgang mit Waffen zu erlernen. Nur... dann wurde sie schwanger und Respen hat mir meinen Platz als Thronfolger streitig gemacht. Nach einem Streit hat Ricimer mich verbannt und so bin ich nach Ming gekommen."
Es folgte Schweigen, wobei es Anavi schwerfiel ihre Tränen zu unterdrücken. Vorsichtig strich sie sich die Tränen weg, noch bevor zu sehen waren. Ihre Hand suchte Halt an der des Heilers. Trost, obwohl auch seine Augen sich leicht rot färbten.
"Rosa..." Lorsan brach als erster das Schweigen. "Ich wusste nicht, dass es so war..."
"Niemand wusste es. Niemand, außer dem Hauptmann der Palastwache. Er war immerhin der, der die Scheune angesteckt hat. Brandpfeile gegen eine Frau und ihr Kind gerichtet hat. Und wie ich ihn kenne, hat er meine Mutter persönlich umgebracht, als sie hinter mir in der Tür stand." Rosalie schüttelte den Kopf. "Ich hasse ihn immer noch dafür, aber leider gibt es keine Möglichkeit zur Rache. Er ist vor ein paar Jahren gestorben und wurde verbrannt." Sie schnaubte. "Aber Ricimer ist noch da. Wenn Faria mich tatsächlich unterstützt, sollte ich über eine Eroberung nachdenken, oder? Königin Rosalie kehrt zurück. Ich habe es ihm damals angedroht, warum sollte ich es nicht wahrmachen?"
"Weil Rache niemanden zurück bringt." Lorsan legte die Hände vors Gesicht. "Glaub mir. Ich habe es versucht."
"Damit ist Feuer mein einziger Feind." Rosalie nickte, der Nebel schwappte über ihre Finger, obwohl sie ihn diesmal nicht zu rufen schien.
"Es tut mir leid." Schnell stand Anavi auf, die beiden anderen folgten nur langsam mit den Blicken. "Ich... brauche Abstand." Damit verließ sie den Salon und eilte zurück in ihr Zimmer. Sie warf sich auf die weichen Decken. Das Gesicht zur Decke schloss sie die Augen und rief sich den Traum in Erinnerung. Wenn der Hauptmann der Palastwache von Mida, der Vater der Zwillinge, wirklich so grausam war, dann wunderte sie das Verhalten der beiden Frauen nicht. Dann noch Rosalies Vermutung, über ihre magische Begabung. Für eine so kurze Zeit, waren es zu viele Informationen. Sie wollte alles sortieren, bevor sie sich weiter darüber unterhalten konnte...
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Der verlorene Prinz
FantasyAls Anavi ohne Erinnerung an ihr früheres Leben in der Obhut des Heilers Lorsan erwacht, ahnt sie noch nichts von den Verflechtungen, in die sie geraten ist. Zufälle, die sich häufen. Fremde, die behaupten sie und ihre Vergangenheit zu kennen. Träum...