86 - Rast

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Es war ein großes Dorf, fast eine Stadt. Selbst die Wege waren befestigt, die Häuser aus Baumstämmen hatten Dächer aus dünnen Steinplatten. Schon von Weitem war das Treiben zu sehen. Die Bewohner traten auf die Straße, als ein tiefer, langer Hornstoß das Kommen des Händlers ankündigte.
Noch immer lag überall Schnee, aber das triste Grün der Wälder wurde von bunter Kleidung und dem Schimmern silberner Wölfe auf den Dächern abgelöst. Darüber waren die Rauchsäulen zu sehen, die das Dorf verrieten. Nicht, dass sich je eine Armee freiwillig so weit in den Norden wagen würde.
Die Wölfe blieben in Anavis Nähe, als auch Lorsan sich zurückfallen ließ und wieder neben ihr ritt. "Das ist ein anderes Dorf. Es profitiert von der Nähe zur Hauptstadt, sagt der Händler. Und die ist etwa drei Tage von hier." Er deutete weiter in die Ferne, etwas östlich des Dorfes. "Bei besserem Wetter soll man sogar den Wald von hier sehen können."
"Mir genügt es, eine Nacht etwas anderes als Bäume und Schnee zu sehen." Anavi ließ den Blick über die Leute streifen. Weder Lorsan und ihr noch der Eskorte wurde viel Beachtung geschenkt. Die Bewohner umringten zielstrebig den Wagen des Händlers.
"Wir können auch einen Tag länger bleiben, wenn du möchtest. Die Pferde können die Ruhe auch gebrauchen."

"Wollt ihr bleiben?" Anavi beugte sich über Hylias Hals und sprach leise mit ihr. Die Stute richtete die Ohren auf, dann nickte sie kurz mit dem Kopf. "Gut, bleiben wir einen Tag länger." Sie lachte und klopfte das Pferd. So konnte sie sich die Entscheidung auch abnehmen lassen.
"Gute Wahl. Ich brauche auch dringend einen Tag Ruhe." Lorsan streckte die Hand zu den Wölfen, die sich brav streicheln ließen. "Sag mal, findest du die Wölfe zu groß?"
"Das ist Lurs schon aufgefallen." Sie sah nochmal zu den Tieren, einen Unterschied konnte sie jedoch nicht mehr feststellen. "Sind sie schon ausgewachsen? Mir kam es vor, als wären sie noch größer geworden, seit unserem Aufbruch."
"Sie sollten ausgewachsen sein." Der Heiler sah die beiden nachdenklich an. "Vielleicht ist es die Magie, die in Ming und Jona herrscht..." Er lächelte und sprach diese Theorie selbst ab. "Warum sollte Magie etwas mit der Größe von Wölfen zu tun haben? Sind keine magischen Tiere."

Sie nickte, da bemerkte sie eine Frau, die zu ihnen kam. Ihre Kleider waren so bunt, wie die der anderen, doch waren deutlich Flicken zu erkennen. Zwar zögerte sie kurz, zwei Schritte vor den Pferden, dann überwand sie die letzten Schritte. "Verzeiht, Herr. Der Händler sagte, Ihr seid Heiler. Kann ich um Eure Hilfe bitten?" Ihr Blick glitt unsicher zu den Wölfen, dann Lorsan.
"Wenn ich helfen kann. Was ist Euer Problem?" Der Heiler lächelte und stieg aus dem Sattel. Ihren Blick schien er zu bemerken und griff Sur am Halsband. Die Frau entspannte sich merklich.
"Mein Mann. Er kehrte von der Jagd zurück, jedoch verletzt. Ich kann mir unseren Dorfheiler nicht leisten, doch wenn ihm nicht geholfen wird..." Ihre Lippe zitterte, ihre Stimme stockte und ihre Augen wurden deutlich feuchter. Die Frau war verzweifelt.
"Natürlich helfe ich. Gebt uns nur Zeit, unsere Tiere unterzubringen und das Zimmer im Gasthaus zu beziehen. Dann begleite ich Euch."
Ein dankbares Lächeln zog sich über ihre Lippen. "Das ist nicht nötig, Herr. Meine Familie betreibt die Herberge des Dorfes. Ich bringe Euch sofort hin. Die Pferde und Wölfe werden untergebracht."

"Dann verlieren wir keine Zeit. Bitte, führt uns." Die Frau nickte eifrig und lief los an den Rand des Dorfplatzes. Dort verschwand sie in einem Weg.
Anavi behielt sie im Blick, während sie ihr folgten. Die Hufe der Pferde schlugen hallend auf den Stein der Straßen. "Die einzige Herberge? Ist dort das Essen auch so schlecht?" Ungern erinnerte sie sich an die erste Nacht in Jona zurück.
"Ich denke nicht, dass es daran liegt. Die Hauptstadt soll das ganze Land versorgen. Händler kommen nur unregelmäßig mit Gütern aus Ming, wenn ich mich richtig erinnere. Handelszentren liegen näher an der Grenze."
"Hm." Sie sah zu den Wölfen. Die Tiere schienen vorsichtig zu sein, reckten die Nasen in die Luft und liefen vorsichtig an abzweigenden Gassen vorbei. Kalter Wind pfiff zwischen den Häusern hindurch.

"Hier!" Die Frau winkte ihnen zu, zwei junge Mädchen rannten aus dem Haus neben ihr. Sie warteten auf die Ankunft des Heilers und nahmen die Zügel entgegen. "Vielen Dank, dass Ihr helft, Herr." Eine der beiden lächelte breit, die andere beeilte sich in den Stall zu kommen, zerrte Donner geradezu hinter sich her.
"Die Wölfe kommen dort unter." Die Mutter deutete auf einen umzäunten Bereich. Sun winselte leise und trat einen Schritt zurück. Als suchte sie nach Hilfe sah sie zu Lorsan auf.
"Sie können auch bei den Pferden bleiben. Sie sind ihre Nähe gewöhnt." Der Heiler deutete auf den Stall und die Wölfe folgten den Mädchen. "Also dann, wo ist Euer Mann?"
"Im Haus. Bitte." Die Frau trat ein, Anavi und Lorsan folgten ihr aus der Kälte in einen sehr kleinen Gastraum. Die Eskorte samt Händler würde hier nicht viel Freiraum haben.
Vom Gastraum führte sie sie zur Seite in Richtung Stall, über eine Treppe jedoch nach oben in den Wohnbereich der Familie. Eine niedrige Decke und kleine Fenster begrenzten den Raum. Die Familie reduzierte ihren Platz wohl auf das mindeste, damit die Gäste ausreichend Platz fanden.
"Dort hinten." Sie brachte sie zu einem geflickten Vorhang und schob ihn zur Seite. Anavi stockte kurz der Atem, als sie die Verwesung roch.

Lorsan war gefasster und trat hinter den Vorhang. Über seine Schulter konnte sie die Verletzung sehen. Eine tiefe Fleischwunde am Bein, die Ränder bereits schwarz verfärbt. Gelber Eiter hatte sich in der unverheilten Wunde gebildet und feine, rote Linien breiteten sich bereits aus.
"Dafür hättet Ihr den Heiler schon früher holen sollen." Anavi setzte sich neben Lorsan und beobachtete, wie er den Bereich um die Wunde abtastete. Der Patient reagierte kaum noch. "Anavi, holst du bitte das violette Pulver aus der großen Tasche. Da beginnt eine Blutvergiftung. Außerdem brauche ich Wasser. Zwei Kessel, heiß. Und saubere Tücher." Besorgt sah er zur Frau. "Das war knapp. Morgen hätte vielleicht sein Bein verloren."

Der verlorene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt