6. Mädchen!

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„Ach, kein Dankeschön dafür, dass ich dich gestern Abend vor dem sicheren Tod gerettet habe?", fragte die Neue mit anzüglicher Stimme.

Verdammt, was sollte das denn?

„Was soll das heißen?", schaltete sich auf einmal Brook ein und ihre Augen blitzten verwirrt auf. Echte Sorge schien in ihr Gesicht geschrieben.

Genau wie ihre Mutter.

„Nichts!", versuchte ich sie schnell abzuwimmeln und warf Shy einen drohenden Blick zu.

Wenn sie die Geschichte weitererzählte, würde irgendwann auch Dr. Forks davon Wind bekommen, dann mein Vater und die Ärzte und alles wäre kaputt.

Ich war verdammt noch mal NICHT selbstmordgefährdet und hatte auch nicht versucht, mich von einem knapp 10 Meter hohen Gebäude zu stürzen.

Ganz ehrlich, wenn ich Suizid beginge, würde ich etwas wählen, wo man ganz sicher umkommt. Eine viel befahrene Straße zum Beispiel. Oder Zuggleisen. Aber doch kein altes Bahnhofsgebäude!

„Na ja", die Neue blickte mich zweifelnd an und ich flehte sie stumm an, bloß den Mund zu halten.

Wie gerne würde ich ihr jetzt tief in die Augen schauen, aber das konnte ich nicht. Ich konnte nur darauf vertrauen, dass sie zu mir hielt.

Genau in dem Moment, wo sie erneut den Mund auftat, betrat unser Mathelehrer den Raum. Ich war wirklich noch nie so froh gewesen, diesen Menschen zu sehen.

Seine uninteressierte Miene, der gezupfte Schnurrbart und die mickrige Streberbrille, all das war mir jetzt lieber, anstatt dieses Gespräch zu führen.

Während der ganzen Stunde spitze ich die Ohren, ob Shy irgendetwas sagte, doch sie flüsterte mit Brook nur über unwichtige Dinge wie Nagellack oder ihr neues Zimmer.

Mädchen!

Direkt nach den zwei Stunden stelle ich mich vor ihren Tisch und warte. Wie gerne wüsste ich jetzt, ob sie mich ansieht oder nicht.

Der schwarze Schemen vor mir schmeißt seine Bücher und Stifte achtlos in seine Umhängetasche. Dann hält er plötzlich inne.

„Was willst du?", fährt Shy mich schnippisch an.

Mein Gott, wie kann man nur derart schlecht drauf sein? Ich glaube, ihr fehlt ein wenig Abwechslung im Leben.

„Hi", stoße ich eilig hervor und blicke mich suchend um. Nichts bewegt sich, was heißt, dass alle anderen bereits draußen sind.

„Ich wollte mit dir über gestern Abend reden..."

„Ja, und?", sie blickt mich geradewegs an und ich spüre, wie Hitze in meine Wangen strömt. Verdammt, was ist bloß mit mir los?

„Können wir das bitte alles einfach vergessen?", frage ich schnell und streiche nervös meine Collegejacke glatt.

„Was alles?", langsam frage ich mich, ob ihr das Spaß macht.

„Hmm", ich lege den Kopf schief und tue so, als würde ich ernsthaft über ihre Frage nachdenken, „die letzten 24 Stunden?"

„Nope!", meint sie achselzuckend und widmet sich wieder ihrer Tasche.

„Komm schon, das ist nicht dein Ernst!", frage ich kopfschüttelnd und beuge mich zu ihr runter.

„Ähm, um genau zu sein, doch", Shy blickt mich freudig grinsend an.

„Ich war VOLL. Einfach nur voll. Nichts weiter, okay?", versuche ich die Sache gerade zu rücken, doch ich merke gleich, dass es nichts bringt.

„Dein Problem."

„Dann erzähl wenigstens keinem davon!", bettele ich fast schon.

„Weißt du, dass ich Typen mit Sonnenbrillen nicht ernst nehmen kann?", bemerkt sie mit einem wütenden Blick, als sie versucht auf zu stehen, ich sie aber nicht vorbeilasse.

Ich breite meine Arme aus und hoffe, damit genug Fluchtraum abzudecken.

„Bitte...", ich ziehe eine traurige Schnute und spüre, wie ihr Körper gegen meinen Arm prallt.

Die Berührung trifft mich unvorbereitet und ich trete einen Schritt zurück, um mein Gleichgewicht zu halten.

Diesen Moment nutzt sie aus und ist nach ein paar Schritten schon so gut wie aus dem Raum: „Ich überleg's mir! Aber die Drogensache gibt Punktabzug..."

„Ich nehme keine Drogen!", schreie ich ihr aufgebracht hinterher. Aber sie zuckt nur mit den Schultern und verschwindet unbeeindruckt im Gang.

Dieses Mädchen bringt mich einfach zur Weißglut!

***

„Ganz ehrlich, hättest du gestern nicht diesen Drogen-quatsch erzählt, dann hätte ich jetzt nicht solche Probleme!", murmele ich frustriert in meine auf den Knien verschränkten Arme.

Jasper neben mir zieht genüsslich an seiner Zigarette.

„Wenn das mein Alter mitbekommt, ich schwöre dir, dann bricht der 3. Weltkrieg aus!"

Doch Jasper antwortet mir nicht. Ein paar Sekunden später zuckte ich erschrocken zusammen, als er plötzlich ein wütendes Grunzen ausstößt.

Anscheinend scheitert er immer noch daran, kleine klägliche Kringel aus seinem Mund zu formen.

„Mist. Irgendwann muss es doch mal klappen!", ruft er frustriert aus und ich spüre anhand seiner schnellen Armbewegung, dass er den glimmenden Zigarettenstummel auf den steinernen Gehweg wirft.

„Du hörst mir ja gar nicht zu...", bemerke ich anmaßend seine nicht existierende Anteilnahme.

Jasper zuckt gelangweilt mit den Schultern, während er beobachtet, wie die Zigarette langsam erlischt: „So weit wird es schon nicht kommen. Du machst dir mal wieder viel zu viele Gedanken über irgend' so einen Schrott. Enspann' dich mal. Hier, rauch' lieber eine!"

Er drückt mir eine fertige Zigarette in die Hand und zündet sich bereits eine neue an.

Tja, so ist er halt. Jasper widmet seine Aufmerksamkeit nur dem hier und jetzt. Aber das kann ich einfach nicht.

Sauer werfe ich die Zigarette hinüber auf die andere Seite des Weges, welche leise auf dem nassen Gras landet.

Vor einer Stunde hatte es noch geschüttet wie aus Kübeln, doch mittlerweile schien wieder die Sonne und erhellte meine verschwommene Sicht. Man hörte bereits die Vögel wieder zwitschern und kleine Kinder lachend über die Wiese rennen. Ein typisches Sommerwetter für Pennsylvania.

„Dann eben nicht."


The blind BadboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt