54. Stille Anklage

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Shys Sicht:

„Du warst WAS?", meine Stimme überschlug sich förmlich, während ich krampfhaft das Handy umklammerte. Schockiert starrte ich mit aufgerissenen Augen auf New York bei Nacht. Das Poster hing mir gegenüber an der Wand.

„Ich war bewusstlos", wiederholte Jack mit angeschlagener Stimme. Ich spürte Brooks aufmerksamen Blick auf mir, während ich mich langsam wieder auf die Bettkante niederließ.

„Aber ... wie ist das passiert?", hauchte ich atemlos in das Telefon.

„Sagen wir es so, es gab gewisse ... Komplikationen", antwortete Jack überraschend ungenau, doch ich hörte die Wut aus seinen Worten heraus.

„Komplikationen?", hakte ich verwirrt nach und runzelte nachdenkend die Stirn. „Warte", plötzlich kam mir ein unangenehmer Gedanke, „du hast dich doch nicht etwa geprügelt?"

„Ha", kam von der anderen Seite, rau und ironisch. „Ich denke, dazu kann Leke dir viel mehr erzählen, schließlich war es derjenige, der mich ausgeschaltet hat."

Bumm. Der Satz schlug ein wie eine Bombe. Um ein Haar hätte ich nun doch das Handy fallen lassen.

„Was?" Dabei hatte ich ihn genaustens verstanden. „Aber ... wieso?", stammelte ich weiter und schüttelte unwillkürlich den Kopf, auch, wenn er mich gar nicht sehen konnte.

So etwas würde Leke niemals tun!

„Was weiß ich? Der Junge ist komplett verrückt. Er und seine Kumpels sind einfach auf uns los gegangen, ohne Grund. Völlig verrückt, sag ich!"

„Nein", widersprach ich ihm, meine Zunge war schneller als mein Verstand, „so etwas machen sie nicht!"

Ich dachte an Zack oder Jasper, Lekes beste Freunde. Sie würden niemals einfach so jemanden verprügeln!

„Frag sie doch selber, wenn du mir nicht glaubst!", Jacks Stimme klang grimmig. Es schien ihm nicht zu gefallen, dass ich ihm nicht glaubte. Aber wie konnte ich das auch?

Er folgten einige Sekunden der Stille, während wir beide nachdachte. Dann meinte er kurz angebunden: „Ich wollte dir auch eigentlich nur sagen, dass ich nicht zum Tanzball kommen kann. Der Arzt hat mir eine Woche Bettruhe verordnet!"

Konnte es eigentlich noch schlimmer werden?

„Aber ... das kannst du nicht machen! Du kannst mir doch nicht zwei Tage vor dem Tanzball sagen, dass du nicht kommen kannst!" Verzweifelt blickte ich Brook an, doch die konnte auch nichts anderes machen als mir einen mitleidigen Blick zuzuwerfen.

Ich war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Das konnte nicht wahr sein! Es war schon immer mein größter Traum gewesen, auf einem Ball mit einem hübschen Jungen zu tanzen.

Und jetzt sollte das alles vorbei sein?

„Es geht nicht anders, Shy. Ich muss jetzt auflegen, bye!"

„Aber-..."

Ich wurde von dem Piepton unterbrochen. Jack hatte einfach aufgelegt. Ich starrte auf den schwarzen Bildschirm und konnte mich nicht rühren.

„Shy", hörte ich Brook sanft sagen, während sie sich neben mich setzte. „Shy, was ist passiert?"

Mit immer wieder stockender Stimme erzählte ich ihr von Jacks schlimmen Vorwürfen und das er nicht mit mir zum Tanzball gehen würde.

„Wir müssen mit Leke und seinen Freunden reden!", waren Brooks erste Worte, als ich geendet hatte. Sie starrte mich mit entschlossener Miene an und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Sofort!"

Ich zuckte mit den Schulter. Es würde nicht viel an meiner Situation ändern, dass ich keinen Tanzpartner mehr hatte. Und das ich Freitag ganz alleine da stehen würde.

***

Mittlerweile war es Mittwoch Abend und wir saßen mit vier Jungen an einem runden Tisch. Vier Jungen, die mit ernster Miene da saßen, als wären sie vor einem Gericht.

„Also", fing Brook bestimmt an und blickte in die Runde. „Ihr fragt euch vielleicht, warum wir hier sind. Nun ja, um es gerade heraus zu sagen: Jack hat gesagt, ihr hättet ihn und seine Freunde ohne Grund verprügelt, sodass er selber mit Gehirnerschütterung ins Krankenhaus gekommen ist!"

Natürlich beobachtete ich ihre Reaktionen ganz genau und natürlich bemerkte ich ihr zusammenzucken, so synchron, als wären sie eine Person.

Ich spürte, wie meine Hoffnung sank. „Also stimmt es?"

Meine Frage hing über uns wie eine Gewitterwolke, drohend und dunkel. Gefährlich. Mein Blick wanderte zu Leke, der auf seiner Unterlippe herum kaute. Ihm war das schlechte Gewissen ins Gesicht geschrieben, dennoch sagte er nichts.

Keiner sagte etwas.

„Das ist nicht euer Ernst! Ihr wollt es noch nicht einmal zugeben?", hakte ich ungläubig nach, immer noch völlig erschüttert von ihrem Vergehen.

„Wir haben es nicht ohne Grund getan!", meldete sich auf einmal Leke zu Wort und blickte im selben Moment wie ich hoch. Seine schwarze Sonnenbrille reflektierte das Licht der Lampe über uns.

„Aha", murmelte ich, neugierig, was nun kommen würde. „Und was war dann der Grund?"

Er schwieg und blickte wieder nach unten. Ich stöhnte frustriert auf.

„Vielleicht will ich es auch gar nicht wissen. Wisst ihr, Jungs prügeln sich nun mal, das ist halt so, denke ich. Ob ihr dafür einen Grund braucht oder nicht?! Ihr wendet halt gerne Gewalt an, ihr seid so. Und wahrscheinlich würde mich das Ganze auch gar nicht so mitnehmen, wenn ihr nicht dadurch meinen Tanzpartner verletzt hättet, sodass ich am Freitag verdammt noch mal alleine da stehe!"

Bei den letzten Worten war ich immer lauter geworden, bis ich sie fast in die Runde geschrien hatte. Denn es stimmte. Es war nicht der Fakt, dass sie sich verprügelt hatten, sondern die daraus folgende Konsequenz.

Ich spürte, wie sich erneut die Tränen in meinen Augen sammelten. Abrupt stand ich auf, schob dabei den Stuhl quietschend nach hinten und stürmte aus dem Raum ins Badezimmer.


The blind BadboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt