69. Nur Mut besiegt die Angst

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Lekes Sicht:

Ich schluckte. „Aber – wieso?" Unruhig blickte ich von einem zum anderen, versuchte sie zu fokussieren, aus ihrer Haltung einen Grund für dieses Verhalten zu erkennen, doch es gelang mir nicht.

„Wir wollen doch nur dein Bestes", meinte Zack grinsend, während sich jemand an meiner Hose zu schaffen machte.

„Hey!", stieß ich erschrocken aus und verscheuchte die Hand verärgert. „Mein Bestes?", wiederholte ich und konnte den verächtlichen Unterton einfach nicht unterdrücken.

Mit Grauen dachte ich an das letzte Mal, als ich – unfreiwillig – von dieser Brücke in den Fluss gesprungen war. Und nachdem ich ernsthaft gedacht hatte, sterben zu müssen. Zu ertrinken, die Sonne nie mehr zu spüren, nicht mehr zu leben.

„Die beste Methode, mit einer Angst fertig zu werden, ist sich ihr zu stellen!", hörte ich auf einmal Brooks ernste Stimme.

Ich stöhnte auf. „Ich erwartet ernsthaft von mir, dass ich noch einmal springe? Kennt ihr mich denn so wenig, dass ihr davon ausgeht?"

„Das ist es ja", meinte Shy, „wir kennen dich so gut, dass wir wissen, dass du es machen wirst!" Ihre Zuversichtlichkeit raubte mir den Atem. Wie konnte sie so etwas bloß behaupten? Dieser Tag war mit der schlimmste in meinem ganzen Leben gewesen! Es hatte sich so angefühlt, als würde mir das Wasser jeden Moment den letzten Atemzug rauben.

Ich seufzte auf, als ich erneut Hände spürte, die an meiner Hose zerrten, und zog sie kurzerhand selber herunter. „Bitte", murmelte ich sauer, „und jetzt?"

„Jetzt springst du!", antwortete mir Jasper blitzschnell und fügte hinzu, um mir keine Pause für eine Widerrede zu lassen, „Mit uns! Wir machen das zusammen, Leke. Gemeinsam. Dieses Mal lassen wir dich nicht im Stich, versprochen!"

„Genau!", hörte ich Zack.

„Versprochen", meldete sich nun auch zum ersten Mal Pacey zu Wort. Selbst er? Selbst der liebe zurückhaltende Pacey hatte sich auf diese Meuterei eingelassen?!

„Schön für euch" meine Miene hatte sich in eine bittere Grimasse verwandelt. „Aber ich mache das nicht. Ich werde nicht springen." Zur Verstärkung meiner Worte verschränkte ich die Arme vor der Brust und wendete mich vom Rand weg, der ich schon ertastet hatte.

„Ach Leke", das war Shy, „hier geht es doch nicht um uns. Hier geht es um dich! Die Jungs haben erzählt, wie gerne zu früher immer hier hin gegangen bist. Wie sehr du das Gefühl des freien Falls geliebt hast, dich waghalsig ein ums andere Mal hier hinunter gestürzt hast. Dieses Gefühl wollen wir dir wieder zurück geben! Nur deswegen sind wir heute hier."

Ihre Worte lösten etwas in mir aus. In meinem Magen machte sich ein Kribbeln breit, als ich an mein jüngeres Ich dachte, welches freudig jede Mutprobe auf sich genommen hatte. Sie hatten Recht.

„Aber das war früher", sprach ich meine Gedanken aus und versuchte jegliche Wehmut aus meinen Worten zu verbannen. „Heute ist es anders, ich bin anders. Und ich gebe es nicht gerne zu, aber es macht mir unheimliche Angst nicht zu sehen wohin ich falle, nicht zu sehen wie tief der Abgrund ist und ins Schwarze zu fallen. Ich bin nicht mehr, der ich einmal war. Es tut mir leid, aber ihr habt eure Hoffnungen in den Falschen gesetzt."

Dieses Thema machte mich traurig und bevor ich noch vor ihnen anfing, in Tränen auszubrechen, lief ich lieber los. Ohne mich umzusehen fanden meine nackten Füße den Weg die Brücke wieder hinunter, während meine Klamotten noch an deren Spitze lagen.

„Leke!", hörte ich Shy erst empört, dann vorsichtiger rufen. „Leke, warte!"

Doch ich wartete nicht. Auf einmal hörte ich sie loslaufen, hörte ihre Füße über den Asphalt fliegen, mir nachrennend. „Leke!", mit schnellem Atem verringerte sie neben mir auf meine Geschwindigkeit und griff nach meinem Arm. Sie zwang mich stehen zu bleiben und drehte mich zu ihr um.

„Weglaufen ist doch auch keine Lösung", ich merkte ihr an, dass sie versuchte, nicht wütend auf mich zu sein und mich zu verstehen. Doch ich wusste wie schwer es für anderen Menschen war, sich in meine Lage hinein zu versetzten. „Vorallem nicht, wenn man halbnackt ist." Sie kicherte.

Mit einem Seufzten musste ich ihr Recht geben. „Woran das wohl liegt?", bemerkte ich sarkastisch, doch ein leichtes Grinsen stahl sich auf mein Gesicht. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen ernst zu bleiben, doch meine Mundwinkel hatte ich noch nie kontrollieren können. Da half die beste Körperhaltung nichts.

„Kommst du wieder mit zurück?", es hörte sich an wie ein Flehen. Eines, dem ich nicht gewachsen war. „Willst du es denn nicht wenigstens einmal versuchen? Jetzt, wo du schon hier bist? Und ausgezogen", fügte sie grinsend hinzu.

„Habe ich denn eine andere Wahl?", stöhnte ich hilflos. Auch wenn ich es nicht zugeben würde, sie hatte einen gewissen Ehrgeiz in mir geweckt. Vielleicht war es ja wirklich einen Versuch wert, meine Angst zu überwinden.

Shy lachte und griff nach meiner Hand. Siegessicher zog sie mich wieder hoch und rief den anderen schon aus weiter Entfernung zu: „Er macht es!"

Die Jungs grölten lautstark. Oh Gott, worauf hatte ich mich da bloß eingelassen?

„Hatten wir nicht von einem Versuch gesprochen?", hakte ich ein wenig zerknirscht nach.

Auf einmal blieben wir stehen. Ihr Gesicht war meinem plötzlich ganz nahe, als sie flüsterte: „Wir können es gerne so nenne, aber ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass du springen wirst. Das wusste ich schon die ganze Zeit."

Mein Gesicht fing an zu kribbeln, als ich ihren warmen Atem spürte, dann drückte sie mir einen Kuss auf die Lippen und zog mich weiter. Erneut spürte ich die Blicke der anderen lastend auf mir, wie sie auf mich warteten. Sie wollten endlich springen, mit mir. Doch so einfach war das nicht.

Vorsichtig tastete ich mich bis an den betonierten Rand der Brücke vor und betastete ihre Breite. Ungefähr eine Hand breit schütze mich vor dem Abgrund. Ich lehnte mich nach vorne, um nach unten zu schauen, doch natürlich bemerkte ich nicht viel unterschied. Das Schwarz war ein wenig dunkler, als wenn ich nach oben blickte, wo die Sonne mir entgegenstrahlte. Doch mehr verriet mir die Sicht nicht.

Ich hörte die anderen neben mir auf die Barrikade klettern, bereit zu springen, wenn ich es war. Vorsichtig setzte ich einen Fuß auf den kalten Beton und stemmte mich hoch, während sich meine Hände sichernd an ihm festkrallten. Nun hockte ich dort, wo ich nie wieder hinwollte.

Dass du springen wirst... , hallten Shys Worte in meinem Kopf wieder. Ich wendete mich zu den anderen. „Und ihr springt auch wirklich mit? Und ... ihr helft mir, wenn ich unten bin?"

„Wir werden die ganze Zeit neben dir sein, Leke", meinte Jasper zuversichtlich.

„Okay" Ich nickte leicht. Nun musste ich die Entscheidung fällen, ob mir diese Sicherheit genügte. Oder ob ich sie alle enttäuschen würde. Aber es war so, wie Shy es vorhin schon angedeutet hatte. Ich besaß keine Wahl. Denn so war ich eben. Ich würde es machen.

Mit einem wilden Schrei stieß ich mich von der Brücke ab.


The blind BadboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt