35. Fata Morgana

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Lekes Sicht:

Irgendwann war mein Zeitgefühl total im Eimer und ich konnte mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wie spät es war. Am nächsten Tag sollte mir zum Teil gar nicht mehr einfallen, was ich die meiste Zeit gemacht hatte.

Jetzt aber setzte ich erneut einen Plastikbecher, der so groß wie mein Daumen war, an die Lippen.

Mit einer knappen Bewegung legte ich den Kopf in den Nacken und ließ den Wodka meine Kehle hinunter rinnen. Bereits kurz darauf begann die sich die Wärme von meinem Hals aus auszubreiten und ich griff erneut nach der Flasche.

Außer mir war nur ein Pärchen in der Küche, welches mich beflissen ignorierte, während es sich aneinander presste und Liebkosungen austauschte.

„Warum sind diese Becher auch soooo klein?", meinte ich verwirrt, als ich ihn mit meinen Fingern drehte und wendete.

Dann setzte ich die Flasche kopfschüttelnd an den Becherrand und versuchte mit konzentrierter Miene, mir erneut einzuschütten.

Auf einmal hielt ich inne und zwang mich, hoch zusehen.

„Shy?" murmelte ich und tausend Gefühle stürzten wie ein mächtiger Wasserfall gleichzeitig auf mich ein. Sie sah mich mit trauriger Miene an und die Enttäuschung, die ihre Augen zeichnete, war kaum auszuhalten.

„Ich ...", stammelte ich und versuchte mich zu sammeln, was bei meinem Schädel gar nicht so einfach war.

Ihr Gesicht wandelte sich in eine wütende Grimasse, während sie dabei war, sich umzudrehen.

„Warte!", rief ich und sprang kurzerhand von meinem Barhocker herunter.

Ganz knapp verhinderte ich, mit meiner Stirn der Tischkante einen Besuch abzustatten und richtete mich vorsichtig wieder auf.

„Shy, warte!", ich streckte eine Hand aus und wollte sie an der Schulter packen, aber sie wich mir aus. Doch das Schlimmste war, dass sie immer noch nichts sagte.

„Ich kann ... es, ich meinje die, äh das erklären!"

Verflixt noch mal, warum musste meine Zunge ausgerechnet JETZT einem Clown Konkurrenz machen?

Oh Gott, ich konnte ihre anklagende Miene einfach nicht mehr ertragen. Die fast zwei Wochen des Ignorierens hatten stark an meinen Nerven gezerrt und mich innerlich aufgefressen.

Und jetzt lief mir die Zeit davon, denn ich wusste, dass sie nicht mehr lange hier stehen bleiben würde.

„Shy, bitte, es tut mir Leid! Wirklich, das musst du mir glauben!", ganz langsam trat ich einen Schritt auf sie zu. Doch Shy schüttelte fast angewidert den Kopf und wich erneut vor mir zurück.

„Ich ..."

Nein, sag es nicht! Tu dir das nicht an, es wird alles ändern! Willst du das etwa?

Tja, wollte ich das? Und wollte ich es jetzt?

Ja, verdammt. Wofür hast du dir sonst den ganzen Mut angetrunken?

„Ich bin blind", flüsterte ich und senkte den Kopf. Das Blut schoss mir in die Wangen und ich traute mich nicht, erneut hoch zusehen.

Als ich es dennoch tat stand sie immer noch an Ort und Stelle. Und ihre Miene hatte sich kein Stück verändert.

„Shy ich ...", verwirrt streckte ich die Hand aus. Ich wollte sie berühren, sie fühlen.

Doch als ich eigentlich ihre Schulter hätte berühren müssen ging mein ausgestreckter Arm einfach hindurch.

Er ging hindurch wie durch einen Geist und ganz langsam verschwamm Shy vor meinen Augen. Sie wurde immer blasser und blasser, bis sie schließlich ganz verschwunden war.

„Was?", stieß ich völlig entsetzt aus und sank vor der Stelle, an der sie eben noch gewesen war, zu Boden. Sie war weg. Weg!

„Das darf nich...icht wahr sein. NEEEIN!", die letzten Worte schrie ich gegen die Musik an, doch hören tat sie keiner. Nur ich. Ich allein.

„Kumpel, alles in Ordnung?", hörte ich eine Jungenstimme weit entfernt fragen, doch sie drang kaum zu mir vor. Sie verblasste bereits am Rande meines Bewusstseins.

Meine Knie begannen zu schmerzen, weil sie gegen die harten Steinfliesen gedrückt wurden, aber es war mir egal. Mehr noch, ich begrüßte den Schmerz.

Du dummer, dummer Junge, dachte ich voller Bitterkeit. Meine Lippen verzogen sich zu einem wütenden Strich, während ich murmelte:

„Ein Traum. Eine Fata Morgane. Eine fucking Fata Morgana ! Wie ich dich hasse! Ich hasse dich, Shy Jayde, dafür, was du mit mir machst."

Ich stoppte, da mir die Worte Tränen in die Augen zwangen. Ich blinzelte, doch es wurde nicht besser. Wann wurde es das schon?

„Oh ja, wie ich dich hasse. Hast du gehört? Ich hasse dich! Ich ... hasse ... dich!"

Die Worte waren so befreiend. Aber sie schienen mir auch gleichzeitig die letzte Kraft zu rauben, die mein zitternder Körper noch besessen hatte.

Völlig entkräftet ließ ich mich zurück sinken, bis mein Rücken gegen eine Holzwand stieß.

Du bist so naiv, dachte ich mir erneut, während ich meine Augen schloss. Doch es änderte nichts an meiner Sicht. Und genau das war es, was mich hätte stutzig machen müssen.

Seit wann hast du die Gabe zu sehen?, dachte ich mir voller Gram und spürte, wie sich mein Gesicht zu einer schmerzhaften Grimasse verzog.

„Seit WANN??? Sag es mir!", redete ich mit mir selber. Ich konnte einfach nicht anders. Warum hatte ich bloß so viel getrunken?

Warum hast du nur geglaubt, du könntest sie sehen? Deine Hand ausstrecken und sehen, wie du sie berührst?

Nein, dachte ich mir bitter, du wirst sie nie sehen. Und du wirst ihr auch nie sagen, dass du blind bist. Nie wieder.

Denn du kennst jetzt die Folgen. Shy ist wie ein Fata Morgana für dich, du wirst immer einen Schritt zu spät sein. Wenn du da bist ist sie schon längst verschwunden. Du wirst sie nie sehen.

Und du wirst nie neben ihr stehen.


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Hallo meine lieben, fleißigen Leser, ich kann einfach nicht anders als euch ein frohes und friedliches Weihnachten zu wünschen; mit vielen Geschenken :p

Also bei uns kommt ja der Weihnachtsmann, und bei euch? :)

Merry Xmas, Jackaroo23


The blind BadboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt