Lekes Sicht:
„Leke, da bist du ja endlich!", Pacey klang erleichtert, als er mich erblickte. Ich zwang mich zu einem beruhigenden Lächeln und trat zu meinen Freunden. Sie waren alle da, selbst Jasper, der doch solch eine Angst davor gehabt hatte, was die anderen Schüler wohl sagen würden.
„Du siehst scheußlich aus", entfuhr es Zack. Es war kaum herauszuhören, doch für mich, der in den Jahren gelernt hatte, Gefühle anhand der Stimme zu erkennen, war es ganz eindeutig: Zack machte sich Sorgen, Sorgen um mich.
„Alles in Ordnung", murmelte ich, plötzlich froh über meine Sonnenbrille. Wenigstens meine Augen mussten nicht lügen.
„Shy, Brook, da seid ihr ja!", begrüßte Zack mit hörbarer Freude die Mädchen, woraufhin sich die Blicke meiner Freunde auf die beiden legten.
Bei ihrem Namen gefror mir augenblicklich das Blut in den Adern. Shy. Ob sie sich noch daran erinnerte, dass ich sie gestern angerufen hatte?
Natürlich tut sie das, du Idiot. Wahrscheinlich besser als du.
Ich traute mich nicht, mich zu bewegen, aus Angst, Shys Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Am liebsten würde ich mich wieder davonschleichen, zu den Toiletten, wo ich mich den ganzen Schultag über verstecken konnte. Dabei hatte ich doch gerade erst gelernt, dass das keine Lösung war. Nein, es hatte alles nur noch schlimmer gemacht.
Wie gern wüsste ich jetzt, ob Shy mich ansah. Bemerkte sie meine strubbeligen Haare, die sich nach meiner schlaflosen Nacht einfach nicht hatten bändigen lassen? Bemerkte sie die tiefen Ringe unter meinen Augen, die gerade so unter meiner Brille hervorlugten? Und bemerkte sie mein Gesicht, so weiß wie Schnee, welches gerade so einen Brechreiz unterdrückte?
Ich glaubte nicht daran.
Eher setzte sich die Vorstellung in meinem Kopf fest, dass sie mich geflissentlich ignorierte, dass ihr Blick einen weiten Bogen um meine Gestalt machte, um nicht mit unserem Streit konfrontiert zu werden.
Ich konnte es ihr nicht verübeln, auch wenn es mir im Herzen einen Stich versetzte. Ich wollte sie so sehr, wollte sie wieder in meine Arme schließen, sie fühlen, sie küssen. Stattdessen stand ich hier, nur wenige Meter entfernt von ihr im Kreis meiner Freunde, und war zu keiner Regung mehr fähig.
„Bitte setzten Sie sich, der Unterricht hat angefangen!" Es war nicht so, als würde uns Mr. Fitz bei etwas unterbrechen. Nein, eher erfreut aufatmend folgten wir seiner Anweisung, endlich vor dieser erdrückenden Stille flüchten zu können.
Leider konnte mein Lehrer meine Gedanken nicht so leicht ausschalten.
***Es war, als wäre wieder ein Stück Normalität in Erie eingekehrt, als wir alle Freitag Abend endlich wieder am alten Bahnhofsgebäude zusammenkamen. Auch die Jungs von unserem Footballteam, in dem ich seit Jahren nicht mehr spielte, waren da, zusammen mit einigen Cheerleadern.
Ich war gerade dabei, mich durch eine dicht stehende Gruppe zu schlängeln, auf dem Weg zur Coach, als mich auf einmal jemand mit festem Griff an den Schultern festhielt.
Überrascht drehte ich mich um, wusste ich doch anhand der Position der Hände, dass ich Jasper gegenüberstand. Niemand sonst hielt mich so bestimmt und gleichzeitig so sanft fest wie er.
„Wer hätte das gedacht, hmm?", augenblicklich schlug mir eine Welle Alkohol entgegen, woraufhin ich leicht angewidert das Gesicht verzog.
„Was denn, Jas?", hakte ich leicht verwirrt nach und zog eine Augenbraue hoch.
„Na, das alles hier!", seine bandagierte Hand ließ meine Schulter los und musste anscheinend auf den gesamten Raum deuten. Ich nahm die Szene in mich auf: die laute Musik, der dröhnende Bass, dessen Vibrationen ich so liebte, der Geruch nach Zigaretten, die vielen Menschen.
„Es ist, als wäre nie etwas passiert", fuhr der Lockenschopf fort, „als wäre das Feuer nie passiert. Alle benehmen sich so normal. Ich verstehe das nicht. Ich meine, es ist doch etwas passiert?! Wie können sie das dann einfach verdrängen? Wie können sie es ignorieren, es ausblenden?"
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, oder besser, was das richtige war, um Jasper zu beruhigen. Ich konnte die pure Verzweiflung aus seiner Stimme hören. Den Versuch, all das zu verstehen, dabei gelang es ihm nicht, kein Stück. Stattdessen braute er sich in seinem Kopf etwas zusammen, versuchte sich das alles hier zu erklären, und machte dadurch alles nur noch viel schlimmer.
Diese Gedanken kamen mir verräterisch bekannt vor. Ich hatte sie auch gehabt, als ich über mich und Shy nachgedacht hatte. Deswegen sagte ich einfach das, was mir durch den Kopf ging. Schließlich musste nicht alles immer richtig oder falsch sein, Hauptsache es war wahr.
„Du hast ganz Recht", ich griff nach vorne, meine Finger krallten sich in seine Jeansjacke. „So Recht. Das ist nicht richtig, wir dürfen nicht vergessen, was passiert ist. Diese Erfahrungen, waren sich auch so hässlich, gehören jetzt zu uns.
Die anderen, sie versuchen nur mit diesem Gedanken klar zu kommen. Versuchen sich einzugestehen, wie es wirklich ist. Jeder hat dafür andere Mittel. Aber heißt das jetzt, dass sie keinen Spaß mehr haben dürfen? Dass sie sich bis an ihr Lebensende vorwerfen sollen, was sie alles falsch gemacht haben? Dass sie an nichts anderes mehr denken sollen?"
„Ich ... denke nicht", stammelte Jasper, durch meine Worte verunsichert.
„Genau. Merkst du denn nicht, was das hier wirklich ist? Eine einzige Ablenkung von den wirklichen Dingen. Eine Phantasiewelt. Aber sie ist schön, so schön. Kein Wunder, dass wir sie genießen, dass ist auch richtig so. Das braucht der Mensch nun einmal. Spaß, Freude. Die Realität wird uns alle schon früh genug einholen.
Gib ihnen also diesen Moment, nutze ihn selber, denke einen Augenblick nicht mehr daran, wer du bist und was du erlebt hast, sondern daran, was du gerne sein würdest und was du gerne erleben würdest. Und dann wirst du merken, dass es dir gleich viel besser geht."
Jasper schwieg sekundenlang, so dass ich dachte, er würde gar nicht mehr antworten. Erst bei seinen folgenden Worten merkte ich, wie sehr er mich verstanden hatte. „Und was ist mit dir?", flüsterte er mit heiserer Stimme.
„Warum stehst du dann hier mit mir? Das kann doch nicht dein Wunsch sein. Du bist doch Leke, mein bester Freund, der in Shy verliebt ist, und dennoch stehst du hier? Wer willst du sein, hmm? Das hast du mich selber gerade gefragt. Ich schätze es ist an der Zeit, dass du dich das selber einmal fragst. Dann würdest du nämlich merken, dass du hier fehl am Platz bist."
Es war, als hätte er mich geschlagen. Dabei wusste ich, dass er Recht hatte. Wütend über mich selbst biss ich mir in die Wange, bis ich den metallenen Geschmack von Blut schmeckte. Real. Das war es, hier, dieser Moment. Und dennoch kam er mir so unwirklich vor.
„Worauf wartest du?", es war mir, als würde Jasper mich wütend schubsen. Weg von ihm, von all der Musik.
„Ich ...", orientierungslos drehte ich mich im Kreis. Wo sollte ich hin?
„Du weißt doch, wo sie ist. Das weißt du immer, hier drin", plötzlich spürte ich Jaspers Hand auf meiner Brust, direkt über meinem Herzen.
Er hatte Recht. Immer noch. Wie hatte ich nur so dumm sein können? Hatte mich der Musik, dem Trubel, der Phantasie hingeben, und den Gedanken an Shy verdrängt. Wie falsch. Hoffentlich konnte ich es wieder gut machen. Wenn es dafür nicht schon längst zu spät war.
Panik ergriff mich, eine Angst, die meine Glieder zum brennen brachte und mich zwang, so schnell wie möglich zur Dachterrasse zu laufen. Mein Herzschlag nahm augenblicklich zu und wurde immer schneller, je näher ich ihr kam.
Schließlich wusste ich, wo sie war. Das hatte ich immer getan.
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The blind Badboy
Teen FictionJeder spielt als Kind verstecken in der Dunkelheit. Jeder schließt die Augen und stellt sich vor, was wäre wenn. Doch niemand tut es für immer. Leke schon. ~Ein braunhaariger Tollpatsch, blind und ziemlich durchgeknallt, steigt ein in das Rennen um...