19. Die Geschichte von zwei Eisstatuen

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Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich darauf einlassen. Anscheinend müssen sie auch schon ein paar Becher intus haben, sonst würde Brook Shy so schnell von uns wegziehen, als wären wir mit einem hoch ansteckendem Virus infiziert.

Doch jetzt saßen sie schon seit einer dreiviertel Stunde mit uns in dem schummrigen Licht und lachten über die Aufgaben und Antworten der anderen.

Gerade sollte Jasper einen Kopfstand an der Wand versuchen und dabei Melanie küssen, was ziemlich komisch aussehen musste. Ich konnte mir sein angestrengtes Gesicht bildlich vorstellen, seine nachdenklich gerunzelte Stirn, ob so etwas denn überhaupt möglich war.

Anscheinend schon, denn nach ein paar Minuten brachen die umstehenden Schüler in freudiges Gröhlen aus.

Mein bester Freund setzte sich mit einem zufriedenem Grinsen neben mich und beugte sich nach vorne, um die Flasche zu drehen.

Irgend warum machte sich ein ungutes Gefühl in meiner Magengegend breit.

„Shy!", stieß Jasper freudig aus und ein schelmisches Grinsen ließ den Lockenkopf noch engelsgleicher aussehen.

Die Angesprochene setzte sich ruckartig gerade hin und schien sich auf einmal ziemlich unwohl zu fühlen, jetzt, da sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand.

Zwar würde sich morgen mehr als die Hälfte dieser Leute nicht mehr daran erinnern, was hier passiert war, aber es schien ihr dennoch peinlich zu sein.

Das Schlimme war, ich kannte Jasper. Und ich wusste genau, was er vorhatte. Seine Augen blitzen zu hundert Prozent gerade schelmisch auf, wie bei einem Fuchs, der seine Beute in die Enge getrieben hatte.

„Nicht, Jas, lass es lieber!", flüsterte ich ihm warnend zu, doch er hörte nicht auf mich. Hatte sich einmal eine so wahnsinnig geniale Idee in seinem kleinem Kopf festgesetzt, ließ er nicht mehr so schnell davon ab.

„Shy, du musst ... ", er wartete einen Moment ab, um sicher zu gehen, dass ihm auch alle zuhörten, und meinte dann in feierlichen Ton, „Leke küssen!"

Wir erfroren zu lebendigen Eissäulen. Wirklich! Wahrscheinlich würde Shy jedoch eher die schöne Eisprinzessin verkörpern und ich den schockierten Frosch, den sie jetzt küssen sollte. Und ich war ein ziemlich hässlicher Frosch.

Ein Frosch mit Sonnenbrille.

Ich spürte, dass Shy mich mit starrer Miene anschaute. Wahrscheinlich überlegte sie gerade, ob es der Frosch wert war, oder ob er sich nur in einem armen Fischersohn verwandeln würde.

„Jasper!", ich seufzte frustriert auf und verdrehte die Augen hinter meiner Brille über solch einen Volldeppen. Ich hatte es langsam angehen wollen. Und jetzt sollte sie mich küssen. Verdammt.

Die anderen schienen enttäuscht, dass es nur ein Kuss war und schauten uns dementsprechend desinteressiert zu.

Ein schwarzer, dünner Schemen, kaum zu erkennen, kam langsamen Schrittes geradewegs auf mich zu. Als Shy sich zu mir herunter beugte, streifte mich ihr warmer Atem und ließ mich ganz still werden.

„Du musst das nicht tun ... ", flüsterte ich. Dabei wünschte ich mir genau das Gegenteil.

„Klar", sie versuchte locker zu klingen, doch ich bemerkte den zynischen Unterton, „Damit mich alle danach auslachen?"

„Hier lacht dich keiner aus. Die sind doch alle schon viel zu betrunken, um irgendetwas zu bemerken ... "

„Wenn du meinst."

Auf einmal spürte ich ihre Lippen auf meinen, sie waren unglaublich sanft. Automatisch schloss ich die Augen, auch, wenn das nicht viel an meinen Sichtverhältnissen veränderte.

Ich schmolz dahin und vor unseren Füßen sammelte sich klares Eiswasser. Doch was hatte es verborgen?

Nach wenigen Sekunden löste sie sich schnell von mir, blieb jedoch noch einen Augenblick vor meinem Gesicht hängen. Meine Lippen prickelten immer noch von der Berührung und mein Körper verlangte nach mehr.

„Sei froh, dass das hier ein Spiel ist, Mr. Flynn, in Echt würde ich dich nämlich niemals küssen. Vor allem nicht mit dieser scheußlichen Sonnenbrille!"

Mit diesen Worten erhob sie sich und ich hörte das herausfordernde Lächeln in ihren Worten: „Mal sehen, wer als nächstes dran ist."

Völlig überrumpelt blickte ich hinüber zu Jasper, der mir das alles erst eingebrockt hatte.

„Was war das denn bitteschön?", murmelte ich verwirrt und strich mir durch die Haare.

„Ich würde sagen, sie steht nicht so auf Sonnenbrillen", gab er mal wieder einen äußerst qualifizierten Kommentar von sich.

„Haha", stieß ich leicht frustriert aus und stemmte mich mit den Armen nach oben. Meine Knie knackten beim Aufstehen.

„Wo willst du denn jetzt hin?", fragte mein Freund verwirrt und blickte zu mir hoch. Ich zuckte mit den Achseln: „Einfach mal frische Luft schnappen..."

Mit diesen Worten griff ich an mein Ohr und machte unauffällig die Microchips an. Langsam, um ja nichts anzustoßen, schleppte ich mich nach draußen in den gepflegten Garten.

Ein paar Schüler standen herum und unterhielten sich, während sie rote Plastikbecher in den Händen hielten, die ab und zu ein leises 'Klack' von sich gaben.

Müde ließ ich mich auf einen gepolsterten Gartenstuhl etwas außerhalb nieder, den ich nur mit großer Mühe gefunden hatte, und dachte über das eben erlebte nach.

Ich war verwirrt. Meine Gedanken flogen nur so hin und her, als ich den Augenblick wieder und wieder erlebte.

Sie würde mich also niemals küssen? Das werden wir ja noch sehen.


The blind BadboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt