61. Worte von Herzen

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Lekes Sicht:

Diese verdammte Stille. Wie gerne würde ich sie deuten. Wie gerne würde ich wissen, was Shy dachte.

Natürlich war es eine Lüge, dachte ich mir. Wie sollte ich auch etwas anderes sagen, wenn ich doch das Bild eines normalen Jungen bewahren wollte?

Mein Herz raste noch immer, als wäre ich Achterbahn gefahren und meine geballten Fäuste drückten sich mit aller Kraft in die kalten Fliesen. Es schien, als bräuchten wir beide einen Moment, um das Gesagte zu verarbeiten. Die Worte und die Bedeutung dahinter.

„Warum hast du es mir nicht gesagt?", ihre Stimme zitterte. Shy war gerade dabei, den Leke hinter der Brille kennenzulernen. Ich konnte ihr nicht verübeln, diese Frage zu stellen.

Dennoch ließ sie mich ganz leise aufstöhnen. Ich wusste um ihre Bürde. „Das ist nicht so einfach." Meine Stimme stockte, ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

„Das ist es nie", sie rutschte unruhig hin und her, um die aufkommende Kälte zu verdrängen.

Ich spürte sie auch, wie sie ganz langsam vom Boden hinaufkroch und all meine Härchen zum stehen brachte. Wie ein Schutzschild richteten sie sich auf, doch vor welcher Gefahr wusste ich nicht. Ich konnte es nur ahnen.

Verletzt zu werden. Weggestoßen von dem Menschen, den du in dein Herz geschlossen hast.

„Ich hatte ...", erneut stoppte ich. Es war so schwierig das auszusprechen, was ich fühlte. Unwillkürlich straffte ich meine Schultern, als ich meine inneren Schwächen preisgab.

„Ich hatte Angst, dich zu verlieren. Ich hatte Angst, dass wenn ich es dir sage, es nicht mehr so sein wird, wie zuvor. Kaum jemand weiß davon, verstehst du? Es ist meine Sache, ganz allein meine, und ich muss jemanden erst zu hundert Prozent vertrauen, bis ich ihm von meinem größten Geheimnis erzähle."

„Heißt das, du vertraust mir jetzt?", in ihrer Stimme klang ein seltsamer Unterton mit. Selbst, wenn sie sich nicht traute, es auszusprechen, war ihre Aussage dennoch deutlich zu verstehen.

Erst jetzt? Du vertraust mir also erst jetzt?

Ich konnte Shys Enttäuschung deutlich spüren, genauso, wie ich sie hören konnte. Erneut schniefte sie und konnte nicht verhindern, dass ihr Atem lauter wurde.

„Nein, so ist das nicht!", beeilte ich mich schnell zu sagen und traute mich immer noch nicht, sie anzusehen. „Bei dir ist es anders. Ich kann es nicht beschreiben und es tut mir schrecklich leid, dass du es so erfahren musstest. Dass du es überhaupt erfahren musstest, dass..."

Plötzlich spürte ich ihre Hand an meinem Gesicht, ihre Finger umschlossen bestimmt mein Kinn und zwangen mich, den Kopf zu heben.

Ich spürte, dass sie unwillkürlich näher kam, als sie flüsterte: „Es muss dir gar nichts leid tun. Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass du es mir erzählt hast. Auch, wenn es erst jetzt ist. Aber ... was hat deine Meinung geändert?"

Shy wollte es wissen. Wenn ich es doch nur selber wüsste.

„Ich schätze", murmelte ich, ganz gefangen von der Situation und von ihrer Nähe, „ich habe dem Risiko die Hand gereicht."

„Das Risiko, von dem du sprichst, hat nie existiert! Ich werde es nie jemanden erzählen, das schwöre ich bei meinem Leben."

Der Ernst in ihrer Stimme ließ mein Herz warm werden, als wäre ihr Atem auf meiner Haut, den ich bei ihren Worten spürte, dafür verantwortlich. „Ich glaube dir", jetzt flüsterte ich, so, dass sie es gerade noch verstehen konnte.

„Danke", wir beide wussten um die Bedeutung dieser Wörter und Sätze, dieser Unterhaltung.

Es folgte eine Weile Stille, eine, in der wir beide nachdachten und einprägten. Doch es war keine fiese, peinliche Stille, eine, die man immer vermeiden wollte. Nein, von ihr ging eine gewisse Entspannung aus, die uns zurück lehnen ließ.

Ganz langsam glitt Shys Hand von meinem Gesicht: „Hmm."

„Was?", hakte ich nach. Insgeheim hoffte ich, dass sie sich nicht von mir abwenden würde mit dem neuen Wissen, dass ich ihr anvertraut hatte.

„Es ist nur alles so kompliziert, und das meine ich nicht böse!", beeilte sie sich schnell zu sagen. Es fing also schon an. Dass sie überlegen musste, was sie sagte, um mich nicht zu verletzten.

Wie ich es hasste. Sie konnte mich nicht verletzten, solche Sätze nahm ich schon lange nicht mehr übel.

„Ich weiß", murmelte ich und merkte, dass ich erneut den Boden anstarrte, „es ist anders. ICH bin anders. Falls du mich magst, also ... wirklich magst, ich ..."

Ich fing an zu stammeln, während mir die Röte erneut ins Gesicht schoss: „Ich meine, ICH mag dich. Sehr sogar. Und wenn es bei dir anders ist, dann - ..."

„Leke!", unterbrach sie mich mit rauer Stimme und musste husten, bevor sie fortfuhr. „Stopp! Ich möchte erst etwas sagen, okay? Also: ich mag dich auch. Sehr sogar."

Ich musste leicht lächeln, als sie meine Worte wiederholte. Dennoch. So einfach konnte ich ihren Worten einfach nicht glauben, auch wenn ich wusste, dass sie von Herzen kamen, war ich mir dennoch nicht sicher, ob sie ihre Tragweite verstand.

„Bist du sicher? Ich meine, versteh mich nicht falsch, nur ... schließlich weißt du nun, dass ich nie so sein werde wie die anderen. Ich werde dich nie in der Menge ausmachen können, werde dich nie sehen können."

Blinde können nicht lieben, sie können doch nicht eine Person mögen, die sie nicht sehen, von der sie nicht wissen, wie sie aussieht. Genau diese Worte hatte ich in der vierten Klasse gehört, als wir das Thema Blinde hatten und sie hatten sich in mein Gehirn eingebrannt wie keine anderen.

Und genau daran dachte ich jetzt. War Shy wirklich bereit, diese Bürde einzugehen? Bereit, zu akzeptieren, dass ich sie nie sehen würde, nie richtig?

„Aber das liebe ich doch so an dir, dass du eben anders bist!", sie gab ihren Worten Nachdruck, indem sie auf einmal wieder nur wenige Zentimeter vor mir kniete. Heiß spürte ich ihren angeregten Atem auf meiner Haut, während sie fortfuhr.

„Du kannst mich nicht sehen, na und? Das bedeutet doch umso mehr, dass du dich in meinen Charakter verliebt hast, ist es nicht so?"

Kein Wort glitt über meine Lippen, so gefangen war ich. JA, wollte ich sagen, laut und deutlich, doch ich konnte nur nicken. Doch es reichte ihr.

„Was könnte es besseres geben, als nicht nach dem Aussehen beurteilt zu werden, sondern nach dem Inneren? Nicht danach, ob man hübsch oder hässlich ist, ob man eine kleine oder große Nase hat, sondern einfach nach dem Verhalten und den Eigenschaften, die man besitzt?

Du hast eine Gabe, weißt du das? Eine unheimlich schöne Gabe, so wertvoll, wie du es dir vielleicht gar nicht vorstellen kannst. Du steckst Menschen nicht sofort in Schubladen, nein, du gibst ihnen ganz unfreiwillig eine Chance, sich dir zu beweisen. Und erst danach urteilst du. Alles das macht dich aus, Leke, und das, auch wenn es nun neu für mich ist, nimmt mich nur umso mehr für dich ein, verstehst du das?

Wie ein neuer Charakterzug an dir, durch den ich dich nun klarer sehe, als je zuvor. Du hast mir geholfen, zu sehen. Ob du es glaubst oder nicht, wahrscheinlich siehst du sogar besser als jeder andere Mensch. Denn dein Blick richtet sich auf die Seele des Menschen und nicht auf seine Hülle."

„Das ist das schönste, was ich je aus deinem Mund gehört habe", flüsterte ich und spürte im gleichen Moment, wie eine Träne sich einen Weg über meine Wange bahnte.


The blind BadboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt