76. Erinnerungen

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Lekes Sicht:

„Guten Morgen."

Verwirrt richtete ich mich bei Shys Stimme auf. Wo war ich? Und warum lag ich in einem Bett und sie nicht neben mir? Kalte Angst packte mich, als die Erinnerungen der letzten Nacht wieder hochkamen.

Jack.

Das Feuer.

Angst.

Jasper, Zack, ich.

Unendlich viel Angst.

Und Flammen, überall Flammen.

„Keine Angst", sprach Shy meine Gedanken aus. Erst jetzt spürte ich ihre Hand sanft über meinen Arm streichen. „Du bist nicht mehr dort."

Sie hatte Recht. Mir schlug keine brennende Hitze mehr ins Gesicht, kein Feuer erhellte meine Sicht und kein Rauch nahm mir die Kraft zu atmen. Ich war in Sicherheit. Aber was war mit den anderen?

„Jasper? Zack?", meine Stimme zitterte. Diese Ungewissheit brachte mich fast um.

„Es geht ihnen – gut. Soweit." Natürlich hatte ich das verräterische Stocken bemerkt, welches mich alarmiert aufhorchen ließ.

„Soweit?", krächzte ich. Ich hustete den Druck von meinen Lungen, um besser reden zu können. „Was bedeutet das?"

Shy seufzte auf. „Gut heißt gut, oder nicht? Jasper hat einige Verbrennungen erlitten, die meisten an der Hand. Einige sind etwas schwerer. Aber ich habe ihn noch nicht gesehen, ich weiß nicht, was das bedeutet. Und Zack ... bei ihm ist das vordere Kreuzband gerissen. Der Arzt meinte es läge daran, dass er eine zu schnelle Bewegung gemacht hat, bei der er das Knie verdreht hätte. Der Unterschenkel müsste dabei noch gestanden haben."

„Und was heißt das?", hakte ich nach. Ich wusste nicht, ob ich erleichtert aufatmen oder vor Sorge die Stirn runzeln sollte. Eine Gefahr, die man kannte, war man einfach viel lieber ausgesetzt als einer, die ungewiss war. Das verstand ich nun.

Dennoch, Verbrennungen hinterließen Narben, Flammen hinterließen Narben. Wenn Jasper Pech haben würde, würde er sie ein Leben lang tragen.

„Zack musste sofort operiert werden", fuhr Shy fort, „und das Kreuzband wurde ersetzt. Er hat nun eine Schiene und wird in der nächste Zeit nicht sehr schnell auf den Beinen sein, geschweige denn, dass er trainieren könnte."

„Oh", das klang allerdings nicht gut. Für Zack bedeutete Sport viel, es war seine Art, sich von seiner Familie abzureagieren. Mir ging es nicht anders. Das Training hatte mir bereits öfters dabei geholfen, den angestauten Hass auf das Benehmen meines Vater loszuwerden.

„Aber Brook war die ganze Nacht bei ihm, seitdem er aus der OP ist. Sie ist ihm nicht von der Seite gewichen", beeilte sich Shy zu sagen. Sie lächelte bei dem Gedanken an ihre Freundin, die bei Zack wache hielt.

Dennoch war ich erleichtert, schließlich hatte ich mit dem schlimmsten gerechnet. In diesem einen Moment dort oben, inmitten des Feuers – es hatte sich wie ein Abschied angefühlt. Uns drei würde dieses Erlebnis für immer verbinden, da war ich mir sicher. Zusammen hatten wir dem Flammenmeer getrotzt, bis zur letzten Sekunde. Wir hätten es bis an unser Ende getan, schweigend. Und dieser Gedanke erfüllte mich mit Stolz.

„Ich bin so froh, dass es dir gut geht", hauchte Shy mir auf die Lippen, ihr warmer Atem strich mir über das Gesicht, als sie sich zu mir vorbeugte.

„Ich konnte doch nicht das Versprechen brechen, dass ich dir gegeben habe", spielte ich auf den Moment an der Leiter an, wo wir uns hatten trennen müssen. Ich flüsterte.

Ihre Haare fielen um mein Gesicht herum und kitzelten meine Haut. Ich musste automatisch grinsen, während mein Herz einen Tick schneller schlug. Sie war mir so nahe.

„Ach ja?", murmelte sie in herausfordernden Ton.

„Wie könnte ich es wag- mhh", weiter kam ich nicht, da sie bereits ihre Lippen auf meine gepresst hatte. Sanft schlang ich die Arme um sie und zog sie noch näher an mich heran, sodass sie schließlich lachend auf mir lag. Es war ein so befreiendes Gefühl und so unbeschreiblich schön, ich genoss jede einzelne Sekunde.

„Nie", sie lachte noch immer, als sie ich sie mit gerunzelter Stirn anblickte.

„Was?", fragte ich schwer atmend. Meine Lungen waren die große Belastung scheinbar noch nicht so gewöhnt.

„Nie wirst du ein Versprechen brechen, dass du mir gegeben hast, Leke Flynn!"

Endlich verstand ich, was sie meinte. „Nie!", wiederholte ich ernst, doch konnte mir das Grinsen bei den folgende Worten nicht verkneifen. „Das verspreche ich." Dann beugte ich mich vor, obwohl mein Körper protestierte, um sie erneut zu küssen. Meine Hand fuhr durch ihre Haare und alles in mir schrie danach, sie mehr zu berühren.

„Ist er wach?", schreckte uns auf einmal eine Stimme auf. Sie kam mir bekannt vor. Die Schwester betrat den Raum, als Shy ihre Frage bejahte. Shy rappelte sich gerade verräterisch wieder auf und strich sich die Jacke wieder glatt. Vielleicht wusste die Frau auch, was gerade passiert war. Okay, nein, ich war mir ziemlich sicher.

„Leke, oder?", sie schien einen prüfenden Blick auf die Unterlagen neben meinem Bett zu werfen.

„Woher wissen Sie das?", entfuhr es mir überrascht. Ich runzelte die Stirn bei dem Gedanken daran, dass sie meine Sachen nach einen Ausweis untersucht haben könnte.

„Ich habe es ihnen gesagt", beantwortete Shy meine Frage, „und haben ihnen deine Personalien gegeben. Das war doch okay, oder?" Sie war vorsichtig. Warum war sie vorsichtig? Was sollte diese sanfte, rücksichtsvolle Stimme?

„Natürlich", es klang ein wenig schroffer als beabsichtigt. „Was ist mit den anderen?", wechselte ich das Thema, während ich die Schwester geflissentlich ignorierte. Sie hatte mich heute Nacht nicht zu ihnen gelassen, mich von ihnen getrennt, und das nahm ich ihr noch immer übel.

„Sie sind alle hier."

Alle?", sie wusste, worauf ich anspielte.

„Ja, alle. Jack und seine Freunde sind auch hier."

Ich wartete, bis ich die Tür wieder zugehen hörte und ich mir sicher sein konnte, dass wir alleine waren.

„Dieser Hund", knurrte ich und brodelnde Wut stieg in mir hoch. „Wo ist er?" Augenblicklich richtete ich mich auf und schwang meine Beine aus dem Bett. Dieses mal gaben sie nicht nach.

„Nicht", murmelte Shy leise. Sie müsste am besten wissen, dass man mich jetzt nicht mehr aufhalten konnte. Ihre Hand rutschte meinen Arm hinunter, als ich schwankend aufstand. Es war ein komisches Gefühl, endlich wieder auf den eigenen Beinen zu stehen. Mit einer geübten Bewegung schaltete ich meine Microchips an.

„Jetzt ruhe dich doch erst einmal aus!", versuchte sie mich umzustimmen, doch es war zu spät. Wie ein Wolf, der seine Fährte aufgenommen hatte, machte ich mich auf den Weg.

„Ich finde ihn auch ohne dich."

„Mach dich nicht lächerlich!", quietschend schob Shy ihren Stuhl zurück. Schon war sie neben mir und hackte sich ein. Ihre Geste entlockte mir ein grimmiges Lächeln.

Als wir jedoch durch die Tür traten erwartete mich eine weitere Überraschung.


The blind BadboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt