90. Der Kreisel der Wahrheit

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Lekes Sicht:

„Er tut mir so leid", murmelte ich bekümmert, „er scheint von uns allen am meisten zu leiden."

Shy griff nach meiner Hand und drückte sie, während sie mich weiter führte. Es war Pause und wir flohen vor den anderen, um ihn Ruhe reden zu können.

„Jasper sollte zu einem Psychologen gehen", es war zwar nur ein Vorschlag, doch beide vernahmen wir ganz deutlich die Schuldgefühle in Shys Stimme. Sie machte sich mit dafür verantwortlich, wie es unserem Freund ging.

„Ich bin mir sicher, dass er die letzten Nächte kaum geschlafen hat. Er macht sich einfach viel zu viele Gedanken über den – Unfall", schloss ich nach einer kurzen Pause ab. Unfall. Konnte man das Feuer so nennen? Wahrscheinlich nicht, doch ich hatte im Moment nicht den Kopf, um mir darüber Gedanken zu machen.

„Und genau deswegen benötigt er professionelle Hilfe!", erwiderte Shy mit Nachdruck. Mittlerweile waren wir stehen geblieben, um uns herum vernahm ich lediglich das Zwitschern von Vögeln. Das Rauschen der Gespräche von anderen Schülern war mit der Zeit immer leiser geworden, ich nahm es kaum mehr wahr.

„Das wird er nicht wollen. Ich kenne ihn. In dieser Hinsicht ist er genauso wie ich." Ich schüttelte den Kopf, als ich über seine Sturheit nachdachte.

„Dann müssen wir ihm irgendwie anders helfen, mit der Sache abzuschließen. Ansonsten wird das immer so weiter gehen."

„Was ist, wenn ...", ich stockte.

„Was?"

„Nein, vergiss es. Das war eine dumme Idee...", versuchte ich sie abzuwimmeln und bereute, dass mir die Wörter ohne nachzudenken über die Lippen gekommen waren.

„Jetzt sag schon!", forderte sie mich betont auf.

„Naja", druckste ich herum und seufzte, als sie hörbar schnaufte. „Was ist, wenn wir Jasper dazu kriegen, Jack zu verzeihen, dass er uns das alles angetan hat?"

„Jack zu verzeihen?", Shys Stimme war automatisch einen Ton höher geschlagen. „Wie kannst du bloß so etwas vorschlagen?" Sie klang vollkommen verständnislos und entsetzt.

„Ich meine ja nur, dass er so vielleicht nicht mehr bei sich selbst die Ursache sucht, generell nicht mehr suchen muss, sondern einfach nur ein Kapitel abschließen kann. Ein so grausames, dass er noch immer jeden Tag Albträume davon hat."

„Aber Jack verzeihen? Jack? Der uns das alles angetan hat, der MIR die Schuld für alles gegeben hat?", Shy trat einen Schritt zurück, dann nach einen. „Das kann ich nicht zulassen."

„Geht es hier immer noch um Jasper oder um dich?", hakte ich grimmig nach, da sie so stur meinen Versuch abwimmelte, Frieden zu finden.

„Das spielt doch überhaupt keine Rolle...", verteidigte sie sich, doch ihre Stimme war wieder leiser geworden. Unsicherer.

„Natürlich tut es das. Ich weiß, wie du dich fühlst. Ich finde den Gedanken ja auch komisch", versuchte ich ihr entgegen zu kommen, „aber so kann es nicht weiter gehen."

„So aber auch nicht. Was Jack getan und gesagt hat – dass kann man ihm nicht verzeihen."

„Aber das musst du ja auch gar nicht!", fuhr ich dazwischen. „DU nicht. Jasper. Wenn zumindest er es hinbekommen sollte...."

„Und du meinst, dass ihm das wirklich helfen kann?", fragte sie immer noch nicht überzeugt. Doch wenigstens widersprach sie mir nicht mehr sofort.

„Ja!", meinte ich. Meine innerlichen Abneigungen gegen diese Idee schob ich schnell beiseite, schließlich musste ich meine eigenen Worte befolgen: nicht nur an mich denken, sondern an Jasper. Und ignorieren, dass auch ich Jack nie verzeihen könnte. „Zumindest hoffe ich es", murmelte ich und strich mit dem Daumen nachdenklich über Shys Handrücken.

The blind BadboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt