78. Über Schmerz und Trost

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Shys Sicht:

Wütend wischte ich mit den Ärmel meiner Jacke die Tränen weg. Meine Wut richtete sich gegen mich selbst, und dass ich Jack die Chance gegeben hatte, mich so zu verletzten. Dass seine Worte bis in mein Herz durchgedrungen waren und nun dafür sorgten, dass ich jedes Gesicht mied, welches mich fragend ansah.

Ich hockte in irgendeiner dunklen Ecke, das Tageslicht schien weit entfernt durch eine Tür, die zu einem verlassenen Balkon zu scheinen führte.

„Arsch", flüsterte ich zu mir selber. Meine Finger ballten sich automatisch zu Fäusten, als ich an Jacks Worte dachte.

Das es besser für uns alle gewesen wäre, wenn Shy Jayde nie in Erie aufgetaucht wäre.

Erst jetzt bemerkte ich das Zittern meines Körpers, das leise verräterische Klappern meiner Zähne, die aufeinanderschlugen.

Was, wenn er Recht hat?

Was, wenn ohne mich das alles nicht passiert wäre?

Diese Fragen geisterten durch meinen Kopf und sorgten dafür, dass ich am Rande der Verzweiflung stand. Am liebsten würde ich nun ganz laut schreien, mit weit aufgerissenen Augen und aus tiefsten Herzen, aber das konnte ich nicht. Um einen Ort zu finden, an dem man sich trauen konnte, so laut zu sein wie das eigene Organ es möglich machte, musste man lange suchen.

Ich hatte das Zeitgefühl verloren, wusste nicht, wie lange ich schon so da saß, die Knie dicht an den Körper gepresst, den Kopf gesenkt, weinend. Ich wollte es nicht, Tränen wegen einem Jungen vergießen, der mir eigentlich nichts bedeuten sollte. Und dennoch tat ich es.

„Shy."

Ich zuckte zusammen. Wie hatte ich Leke nicht kommen hören? Ich schniefte und begann schnell, meine Tränen wegzuwischen und meine Haare zu ordnen, bis mir einfiel, dass er mich sowieso nicht sehen konnte.

„Ich habe dich überall gesucht!", natürlich bemerkte ich die Sorge in seiner Stimme, doch es war seine Miene, die mein Herz erwärmte. Seine Augen starrten an mir vorbei, auf meine Beine. Ich konnte es nur erkennen, weil er seine Sonnenbrille nicht aufgesetzt hatte. Seine Stirn zierten zwei waagerechte Falten und seine Lippen waren vor Wut auf den Jungen zusammengepresst, der uns all das angetan hatte.

„Ich – musste einfach weg", versuchte ich mein Verhalten zu erklären, doch er unterbrach mich kopfschüttelnd.

„Ist schon gut", seine Stimme war so sanft, so warm. „Ich hätte wahrscheinlich nicht anders gehandelt."

Das konnte ich mir schlecht vorstellen. Der mutige, angriffslustige und schnell wütende Leke wäre vor Jack weggelaufen wie ein Hund mit eingezogenen Schwanz? Doch darauf wollte ich jetzt nicht genauer eingehen. Im Grunde genommen wollte ich das alles einfach nur noch vergessen.

Ich blickte auf, als Leke sich vor mich hinkniete und beobachtete, wie er mit einer unheimliche genauen Präzision nach meinen Hände griff. Seine Wärme ließ meine Haut kribbeln und ich ließ zu, wie er sie zu seinem Mund führte und sanft küsste. Meine Tränen waren vergessen, stattdessen war da nur noch dieses Gefühl von Freude, das sich in meinem Magen breitmachte.

„Ich werde nicht zulassen, dass das noch einmal geschieht", murmelte Leke und seine Worte verursachten eine Gänsehaut bei mir. Seine Stimme klang so ernst, so bitter, so traurig.

Es ging ihm wie es mir ging, und mehr. Er fühlte sich verletzt, als hätten sie nicht mich, sondern ihn angegriffen. Ihm gingen die gleichen Sätze durch den Kopf, die gleiche Wut ließ seinen Kopf ganz rot werden, dass Blut heiß, die Tränen warm.

„Ich weiß", flüsterte ich, den Kopf an seinen gelehnt. Ohne ihn würde ich zusammenbrechen.

„Jack wird dich nie wieder verletzten, das schwöre ich. Eher bringe ich ihn um!"

„Leke!", entfuhr es mir erschüttert, Angst machte sich in mir breit. Es klang so ernst, seine Augen, der Ernst, er stand in ihnen geschrieben, tief eingebrannt. Das Feuer hatte seine Spuren hinterlassen. „So etwas darfst du nicht sagen!", wies ich ihn zurück, versuchte diese verrückte Idee zu stoppen. Ich konnte nicht glauben, dass er zu so etwas imstande war.

„Wo ist der Unterschied, wenn ich es doch denke?", Leke streichelte fast monoton meine Hand, sein Blick war nun nicht mehr auf mich, sondern in die Ferne des Ganges gerichtet.

„Es wird immer einen Unterschied zwischen dem, was man denkt und dem, was man sagt geben", ich entzog ihm meine Hand, woraufhin er sich wieder auf mich konzentrierte. „Sag so etwas nie wieder, hast du verstanden!"

„Aber wünscht du dir es denn nicht auch?", die Traurigkeit über meine Verletzung stand über allem anderen, wie ich jetzt bemerkte.

Ehe ich antworten konnte spürte ich seine Hand an meinem Bein. „Du zitterst ja", stieß Leke überrascht aus.

„Oh" Ich blickte an mir hinunter. Tatsächlich zitterte mein ganzer Körper, doch mir war nicht kalt. Nein, es musste andere Ursachen haben. „Ich wünschte, Jack wäre mir nie begegnet, das gebe ich zu. Aber den Tod, den wünsche ich niemanden. Er wird uns alle schon früh genug einholen."

„Okay."

Lekes Antwort verwirrte mich. Doch ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Er schien wieder so abwesend, obwohl ich ihn sogar spüren konnte.

„Und ... was sollen wir jetzt tun?", meine Frage beinhaltete so viel mehr. Wie soll ich es schaffen, Jack aus dem Weg zu gehen? Wie soll ich so weiterleben, nach dem, was passiert ist? Was hatte Jack verdient? Und was nicht?

„Er wird sich nicht mehr in unsere Nähe wagen", er drückte meine Hand, doch konnte das Zittern nicht stoppen. „Aber wenn ich ehrlich bin: Ich weiß es nicht."

Ich nickte leicht. Das war die Wahrheit, die ich zwar nicht hören wollte, die ich aber dennoch ertragen musste. Besser ich wurde jetzt mit ihr konfrontiert als später.

„Aber ich weiß, dass wir das schaffen werden, so wie wir bisher alles geschafft haben. Wir beide, und Brook, und Pacey, Zack und Jasper. Wir alle werden das schon irgendwie schaffen, daran glaube ich ganz fest."

Leke zog mich näher an sich heran, bis ich fest in seinen Armen lag. Noch einmal flüsterte er, dieses mal in mein Ohr, als wäre es ein Geheimnis, welches nur für mich bestimmt war. „Wir schaffen das."


The blind BadboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt