46. Das Versprechen des Lebens

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Shys Sicht:

„Mir ist schlecht!", murmelte ich an Brook gewandt, während ich mich über das Handtuch zu ihr hinüber beugte.

Sie wandte sich mir mit einem mitleidigen Blick zu. „Sollen wir gehen?"

„Ich weiß nicht ...", unsicher sah ich ein paar Meter weiter.

Meine unruhigen Augen studierten den Jungen, von dem ich nicht wusste, ob ich ihn alleine lassen konnte. Ob ich einfach gehen konnte.

Schließlich wäre er gerade beinahe vor meinen eigenen Augen gestorben.

Leke saß einfach nur da. Die warmen Sonnenstrahlen trockneten seinen Körper, während er den Worten von Jasper lauschte.

Dieser redete ununterbrochen auf ihn ein und es schien, als habe ihn die Aufregung immer noch nicht verlassen. Seine Augen blitzten unruhig auf, während er sprach.

„Ich weiß einfach nicht, wie er so dumm sein konnte...", meinte Brook. Sie blickte ebenfalls in die Richtung der Jungs und wirkte tief im Gedanken versunken.

„Ja", stimmte ich ihr mit trockener Stimme zu. In meinem Kopf tauchte das Bild wieder auf.

Das Bild eines beunruhigten, wenn nicht sogar ängstlichen Jungen, der auf der Brüstung einer viel zu hohen Brücke stand und auf das Wasser unter sich starrte.

Der die Hände zu Fäusten geballt hatte und einfach nur da stand. Als wäre er eine lebendige Statue stand er da, reglos, stumm. Nur sein Brustkorb hatte sich gehoben und gesenkt, als hätte er einen Marathon hinter sich.

Ich hatte gar nicht hinschauen wollen, aber ich tat es trotzdem. Und ich war nicht die einzige.

„Das ist Leke Flynn, der muss halt springen", murmelte ich kopfschüttelnd zu Brook, während wir ihn weiterhin betrachteten.

Dabei wusste ich, dass das nicht stimmte. Denn er war nicht gesprungen.

Klar hatten wir uns gefragt, was da los war. Warum er nicht wie die anderen über die Brüstung trat.

Dabei war Leke doch 'der erste, der je diesen wagemutigen Sprung in der Geschichte von Pennsylvania gewagt hat', wie Sydney mir zuvor noch mit stolzen Augen erzählt hatte.

Ich hatte daraufhin nur die Augen verdreht. 'Na und?', hatte ich mir gedacht.

Aber dann war er nicht gesprungen, und alle hatten ihn angeschaut. Solange, bis Sydney ihn kurzerhand mit sich hinunter gerissen hatte.

Ich sah ihn wild mit den Armen in der Luft herumschlagen, mit zusammen gepressten Mund, bei dem Versuch, das Unvermeidliche zu stoppen.

Doch das ging nicht. Leke fiel, kam seitlich auf dem Wasser auf. Bei dem lauten Platscher war ich vor Schreck zusammengezuckt.

„Aber ich wüsste gerne, was da passiert ist. Das er nicht mehr hochgekommen ist....", fuhr Brook auf einmal fort, „...das war schrecklich!"

Bei ihren Worten bekam ich eine Gänsehaut. Es stimmte. Die Sekunden, in denen der Idiot nicht mehr aufgetaucht war, die immer länger wurden, hatte ich Todesängste ausgestanden.

Todesängste um ihn.

Um diesen verflixten Jungen, der mich so verrückt machte. Mich zur Weißglut brachte. Aber der irgendwie ein Teil meines Lebens geworden war.

„Wenn er das noch einmal tut, dann ...", ich sprach nicht weiter. Ich wusste ja selber nicht, was ich da sagte. Und weshalb. Es brachte ja doch nichts. Ich sprach gegen eine dicke Wand.

Ich hörte Brook neben mir aufseufzten. „Wir können nicht für ihn bestimmen."

„Wer sagt das?"

„Du hast dich doch selber so darüber aufgeregt, dass er sich in die Sache mit dem Tanzball eingemischt hat", entgegnete Brook kurz angebunden.

„Na und? Da geht es auch nicht um Leben und Tod!", ich verschränkte die Arme vor der Brust. Ich wusste, dass sie Recht hatte. Das ich mich nicht aufregen sollte.

„Aber es ist SEIN Leben, Shy. Und du weißt genau so gut wie ich, dass das nicht einfach ist."

Was wollte Brook mir damit sagen? Das ich diesen Sprung tolerieren sollte, der schon fast einem Selbstmord glich?

Der mich so sehr an die erste Nacht unserer Begegnung erinnerte, als Leke ebenfalls auf einer Mauer stand, vor einem tiefen Abgrund?

„Nichts ist einfach", murmelte ich und wandte mich nun endgültig von Lekes Anblick ab, „aber ..."

Ich spürte Brooks auffordernden Blick auf mir, der mir sagte, ich solle fortfahren.

„Aber ich hatte solche Angst", beende ich flüsternd meinen Satz und ließ den Kopf sinken. Ich wollte nicht, dass sie die aufkeimenden Tränen bemerkte.

Brook schwieg, was mich dazu veranlasste, weiter zu reden.

„Wenn er da gerade vor unseren Augen gestorben wäre ... ich weiß nicht. Ich ... Oh Gott, Brook, so etwas darf nie wieder passieren, hörst du? NIE WIEDER!"

Ich presste meine Augenlider zusammen, um die Tränen zu beseitigen, und sah auf.

Mein Blick traf Brooks, in dem ich ebenfalls die stille Angst wahrnahm, die sich auch in mir breit gemacht hatte. Ich spürte sie fest verwurzelt in meiner Brust, kräftig und lodernd heiß.

„So etwas wird nicht passieren", flüsterte meine beste Freundin mir beruhigend zu. Doch dieser Satz galt ganz sicher nicht nur für mich. Sie kannte Leke schon viel länger als ich.

„Versprich es mir!"

Ich war dumm genug, diese Worte auszusprechen. Aber nun hatte ich sie gesagt, obwohl ich ganz genau wusste, dass Brook kein bisschen für Leke verantwortlich war. Das sie nichts dafür konnte.

Doch sie wusste, was es mir bedeutete. Ich wollte nicht an diesen Jungen gebunden werden, weil ich schlicht und einfach Angst davor hatte. Vor dieser Verbindung.

Ich wollte nicht dazu gezwungen werden, mit ihm zu reden, bloß um mich um ihn zu kümmern. Um für ihn da zu sein.

Diese Bürde konnte ich nicht tragen.

Deswegen nickte Brook ganz langsam, während sie flüsterte: „Ich verspreche es dir. Leke wird nichts passieren!"


The blind BadboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt