44. Die Mutprobe

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Lekes Sicht:

Ich atmete tief ein, sog den Sauerstoff in meine Lungen, bis ich das Gefühl hatte, sie würden jeden Moment platzen. Doch es wurde nicht besser. Diese Situation wurde nicht besser.

Warum hatte ich mich bloß zu diesem Ausflug überreden lassen, wo ich sein Ziel doch so genau kannte? Wo ich doch wusste, was ich zu erwarten hatte?

Ich atmete langsam wieder aus. Spürte den warmen Wind, einen der letzten Boten des Sommers, um meine nackte Haut streichen. Spürte die Sonnenstrahlen in meinem Gesicht.

Meine Erinnerung wusste, was mich erwartete. Sie hatte mich gewarnt, aber ich wollte nicht hören. Wir haben Herbstferien, hatte ich mir gesagt. Da gehört ein bisschen Spaß dazu!

Spaß. Wäre ich nicht gerade so angespannt, hätte ich gelacht. Das hier war das absolute Gegenteil davon.

„Leke? Alles okay?", hörte ich Sydneys Stimme hinter mir.

Ich konnte nicht antworten, mein Mund war absolut trocken. Deswegen nickte ich. In meinem Kopf wusste ich, was auf mich wartete.

Nur einen Schritt weiter, und ich würde fallen.

Ich würde von dieser Brücke stürzen, die sich knappe 15 Meter hoch über dem Fluss erstreckte, und fallen. Immer weiter, bis ich auf das kalte, angenehme Wasser treffen würde.

Doch was sich so einfach anhörte, war für mich eine absolute Horrorvorstellung geworden.

Ich konnte nicht sehen, wie weit der Boden noch entfernt war, konnte nicht meine Freunde sehen, die bereits gesprungen waren und nun sicherheitshalber im Wasser warteten.

In meiner Erinnerung war das alles so leicht gewesen. Mit meinen 13 Jahren, kurz vor meinem Unfall, war ich schon einmal hier gewesen. Wir hatten eine Mutprobe daraus gemacht, Jasper, Pacey, Zack und ich. Wer traute sich, zuerst zu springen?

Am Ende war ich es, der mit entschlossener Miene vortrat und über die Brüstung sprang. Dieses Hochgefühl, dieses Adrenalin, das meinen Körper schier überflutete hatte, war unbeschreiblich gewesen.

„Leke?", riss mich Sydneys mittlerweile ungeduldig klingende Stimme aus meinen Gedanken.

„Sofort!", motze ich zurück und versuchte dabei, gelassen zu klingen.

Ich wusste, dass sie alle gerade zu mir sahen. Aber das war es nicht, was mir den Rest gab. Nein, es war das Wissen, dass Shy gerade zu mir herüber sah, weil sie auch mitgekommen war.

Komm schon, flüsterte ich mir innerlich zu, du kannst das!

Doch das stimmte nicht. Ich starrte mit weit aufgerissenen Augen nach vorne, und schaffte es sogar, das dunkle blau, für mich eher schwarz, des Flusses zu registrieren.

Ohne es zu wollen ballten sich meine Hände zu Fäusten und der Schweiß fing an, in kleinen Perlen meine Stirn herunter zu laufen.

Ich kann das nicht!, wollte ich am liebsten schreien. Ich KANN es einfach nicht.

Meine Schultern sackten nach unten, ich stand immer noch auf dem dünne Geländer der Brücke und hielt krampfhaft mein Gleichgewicht.

Erstaunlich, dass ich nicht schon längst wegen mangelnder Konzentration hinunter gestürzt war.

Ich wusste, dass die anderen auf mich warteten. Und das sie ein anderes Bild von mir haben würden, wenn ich nicht springen würde. Wenn ich kneifen würde, wie ein Schwächling.

Aber ich konnte meine Muskeln einfach nicht bewegen. In meinem Kopf war eine Blockade, die mich davor stoppte, weiter zu gehen.

„Du musst das nicht tun", hörte ich auf einmal Paceys Stimme dicht hinter mir. Er war der einzige von den Jungen, der auch noch nicht gesprungen war.

Ich schluckte, wusste ich doch, das seine Worte nicht stimmten. Ja, für ihn musste ich es nicht tun, und auch nicht für Sydney. Selbst für Shy nicht.

Nein, ich musste es für mich tun, aber ich schaffte es nicht. Dieser schwarze Abgrund machte mir Angst, unheimlich Angst, und ich konnte rein gar nichts dagegen tun.

Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf das Gefühl, dass ich bei meinem letzten Sprung gefühlt hatte. Damals, vor über vier Jahren.

Adrenalin, gemischt mit Angst, das Fallen, keinen Boden unter dir, nichts, Leere.

Ich wollte es noch einmal, wirklich, aber mein Fuß bewegte sich nicht. Denn mein Kopf wollte etwas anderes als mein Herz.

Ich vernahm das ungeduldige Seufzen von Sydney hinter mir, spürte den Druck wie eine gewaltige Last auf mich, den die anderen auf mich luden.

Ich hätte wohl in zehn Jahren noch da gestanden, in Schockstarre und nach Atem ringend.

Bestimmt hätte ich das, wenn nicht auf einmal jemand von hinten neben mir über das Geländer gesprungen wäre und mich mit sich gerissen hätte.

Überrascht schnappte ich nach Luft und fuchtelte mit meinen Armen herum, als könnte mir das helfen. Unter mir war nichts als schwarze Leere und ich stürzte geradewegs auf sie zu.

Ich spürte die kühle Luft an meinem Körper vorbeirauschen.

Und ich wollte schreien, so laut schreien, doch aus meinem Mund kam kein einziger Ton. Irgendwarum hielt ich ihn mit aller Kraft geschlossen, presste die Lippen so fest aufeinander, wie es ging.

Ich hörte Sydney neben mir vergnügt aufschreien und die wenigen Millisekunden des Fallens fühlten sich für mich wie Minuten der endlosen Schwerelosigkeit an.

Bis ich auf einmal mit einem harten Klatschen auf der Wasseroberfläche aufkam.

Es fühlte sich an, als würde ich gegen Beton knallen. Der Aufprall schien meine Lungen zerbersten zu wollen und sorgte dafür, dass ich nun doch nach Luft schnappend meinen Mund aufmachte.

Ich war seitlich auf das Wasser aufgeschlagen und spürte, wie meine linke Seite anfing zu pochen und zu zwicken, als würde sie mit tausend Nadeln gleichzeitig bearbeitet werden.

Auf einmal war das kalte Wasser um mich herum, schloss mich ein, es war überall. Ich wusste nicht mehr, wo oben und wo unten war.

Panisch versuchte ich mich nach oben zu bewegen, doch ich wusste nicht, wo das war. Die Angst begann mich zu lähmen, ich war zu keiner Regung mehr fähig.

Sollte das mein Ende sein?

Ich riss die Augen auf, so weit ich konnte, starrte in die Dunkelheit, krampfhaft, ängstlich, doch alles sah gleich aus. Gleich schwarz.

Ohne es zu wollen schluckte ich Wasser, es war überall, um mich herum, in mir. Ich hustete, schluckte nur noch mehr.

Meine Sicht konnte nicht mehr dunkler werden, doch ich spürte trotzdem, dass ich nicht mehr lange durchhalten würde.

Mum.

Ich dachte an sie, und auf einmal sah ich sie vor mir. Seit Jahren hatte ich das nicht mehr gekonnt. Sie sah noch hübscher aus, als ich sie in Erinnerung gehabt hatte. Die blonden Haare nach hinten gekämmt und mit einem bezaubernden Lächeln auf den Lippen.

Mum.

Ich starrte sie an, wollte ihr sagen, wie sehr ich sie vermisste, aber ich konnte es nicht. Denn plötzlich verwischte ihr Bild vor meinen Augen und trieb davon, wie eine Feder auf dem Wasser.

Ich war allein.


The blind BadboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt