86. Schlag ins Leben

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Shys Sicht:

„Was?", Leke riss erschrocken die Augen auf und starrte ebenso wie ich Zack an, welcher sich unter unseren Blicken wand. Lekes Hand auf meinem Rücken verkrampfte sich, als wolle sie sich an etwas festhalten, doch sie fand nur meine glatte Haut, welche keinen Halt gab.

„Wo ist er?", doch Zack reagierte nicht. Er selbst schien gerade erst zu realisieren, was diese Nachricht zu bedeuten hatte. „Wo?", ich rüttelte an den Schultern des Blondschopfs, welcher mich entgeistert anstarrte.

„Unten", murmelte er wie von Sinnen und deutete auf das Treppenhaus. Dieser Idiot. Natürlich war Jasper unten, schließlich befanden wir uns auf dem Dach des Gebäudes.

Ich ergriff Lekes Hand und zog ihn hinter mir her. „Vorsicht, Stufe", bemerkte ich noch, bevor ich ihn schnellstmöglich hinunter führte. Sicher fasste er neben mir Fuß, sodass ich mich bestätigt darin sah, noch schneller zu laufen.

Als wir in den größten Raum des Gebäudes kamen schlug uns eine seltsame Stimmung entgegen. Erst später sollte ich realisieren, was sie auslöste: Die Musik – sie war ausgeschaltet. Und das war so gut wie nie der Fall. Dichte Grüppchen von Freunden und Unbekannten standen beieinander und beobachteten, wie wir uns einen Weg durch die Menge bahnten, hin zu der Stelle, um die sich ein bedächtiger Kreis gebildet hatte.

Manche tuschelten, flüsterten, andere standen nur stumm da, als wären sie nicht teil dieses Geschehens. Wieder anderen schien das ganze kein bisschen zu interessieren, sie redeten angeheitert, lachten und machten ihre Spaße.

Doch das alles bekam ich nur am Rande mit, da sich meine ganze Aufmerksamkeit auf den Kreis vor mir gerichtete hatte, durch den ich mich nun mithilfe meiner Ellenbogen und einiger Beschimpfungen durchkämpfte.

„Pass doch auf!", wurde ich von einem Mädchen angekeift, welches mir sogleich ebenfalls auf den Fuß trat, sodass ich fast gestolpert wäre. Am liebsten hätte ich ihr eine wütende Beleidigung an den Kopf geworfen, doch ich war bereits im Inneren des Kreises angekommen.

„Brook!", rief ich erleichtert aus, als ich meine beste Freundin erblickte. Sogleich kniete ich mich neben sie und zog Leke mit hinunter. Jasper lag mit geschlossenen Augen auf dem Boden, die Beine angewinkelt, während Brook an seinen Schultern rüttelte.

„Was ist los? Was hat er?", Lekes ängstliche Stimme schnitt mir bis ins Herz. Ich beobachtete atemlos, wie er sich langsam vorbeugte und seine Hand über Jaspers Körper fuhr. An seinem Hals blieb sie liegen.

„Er atmet noch", stieß er erleichtert aus.

„Natürlich", Brook wirkte gestresst. „Denkst du, dass ich nicht sonst schon längst den Krankenwagen gerufen hätte?"

„Du hast noch keine Hilfe geholt?", ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme eine Tonlage höher stieg.

„Nein", Brook schüttelte selbstbewusst den Kopf. „Er ist lediglich bewusstlos, wahrscheinlich war es die ganze Aufregung. Ich war mir eigentlich ziemlich sicher, dass er gleich wieder aufwacht..."

War?", wiederholte ich schockiert ihre Worte und versuchte anhand ihres Gesichtsausdruckes zu erkennen, was sie uns verschwieg. Doch Brook wich meinem Blick aus und konzentrierte sich erneut auf Jasper. Leke rüttelte nun ebenfalls an seinen Schultern, seine Haltung drückte wahre Verzweiflung aus.

„Jasper, wach auf verdammt!", Leke schrie ihn förmlich an, ich spürte, dass er kurz davor war in Tränen auszubrechen. Die letzten Tage hatten auch bei ihm ihre Spuren hinterlassen.

Unwillkürlich ballte ich die Hände zu Fäusten bei dem Bild, welches sich mir bot. Wie viel Unglück konnte denn noch über uns kommen? Wild entschlossen, dass sich daran endlich etwas ändern musste, kniete ich mich zu meinen Freunden.

Die Lippen stur zusammengepresst, die Augen ernst auf mein Ziel gerichtet, holte ich blitzschnell aus. Die anderen zuckten bei dem Laut des Schlages zusammen, doch ich blickte nur starr hinunter und verzog keine Miene. Erst dachte ich, es hätte nichts gebracht. Dass Jasper nicht aufwachen würde.

Nur langsam regte sich etwas unter mir, nur langsam schien er wieder zu sich zu kommen. Wie in Zeitlupe schlug er die Augen auf und sah uns stirnrunzelnd an.

„Oh Mann", es schien, als könne Leke erst jetzt wieder erleichtert ausatmen. Seine Arme schlangen sich um den immer noch verwirrten Jasper und drückten ihn ganz fest an sich. Es schien, als wolle er ihn am liebsten nie wieder loslassen.

„Wie fühlst du dich?", kam die besorgte Ärztin in Brook hervor.

Erst jetzt ließ Leke ihn wieder los. Ich betrachtete den Lockenkopf etwas genauer. Sein Gesicht war blass, das konnte ich selbst in dem schlechten Licht der bunten Lichterketten ausmachen. Doch er machte generell einen schlappen Eindruck. Dieser wurde von den tief liegenden Augenringen unterstrichen. Jasper schien nicht gut geschlafen zu haben.

„Gut", murmelte er, um uns zu beruhigen. Seine Augen lagen auf Leke, beobachteten, wie dieser sich langsam entspannte. Ich wusste, dass es eine Lüge war. Doch warum bemerkte sein bester Freund es nicht?

„Bist du sicher?", hakte ich unsicher nach, wie ich mich in dieser Situation verhalten sollte.

„Ja", Jaspers Blick bohrte mich förmlich an Ort und Stelle fest. Es war eine stille Warnung an mich, nicht weiter nachzubohren. Wütend funkelte ich ihn an. Dennoch hielt ich mich zurück und setzte ein gekünsteltes Lächeln auf, als ich mich an die anderen wandte, die in einem dichten Kreis um uns herum standen und jedes Wort mitbekommen hatten.

„Es ist alles in Ordnung!", wies ich sie zurück. „Ihr könnt weiterfeiern. Oder was auch immer..."

Nur langsam zerstreute sich die Menge. Erst nachdem sie einen prüfenden Blick auf den – offensichtlich – noch lebenden Jasper geworfen hatten, wandten sie sich ab. Nur unsere Freunde, darunter mittlerweile auch Zack, welcher ziemlich durch den Wind schien, blieben bei uns stehen.

„Aber wie ist das bitte passiert? Ich meine, man kippt doch nicht einfach so um...oder?", Leke versuchte seine Besorgnis mit einem leichten Grinsen zu überspielen, doch es gelang ihm nicht.

Brook zuckte mit den Schultern, sich bewusst, dass all unsere Blicke auf ihr lagen. Wenn jemand eine Antwort auf diese Frage wusste, dann war sie es.

„Das kann schon einmal vorkommen, wenn der Kreislauf einfach nicht mehr mitmacht. Stress kann das ganze zudem noch verstärken, dann gehen manchen Menschen schneller mal, nun ja, die Lichter aus. Sorry Jas", sie warf dem Lockenkopf einen entschuldigen Blick für ihre Wortwahl zu, doch dieser zuckte nur mit den Schultern.

Er wirkte in sich gekehrt, überlegend. Mir schien es, als würde er kaum an dieser Unterhaltung teilnehmen, sondern eher Gegenstand des Gespräches sein.

„Aber, das passiert jetzt nicht noch einmal?!", hakte ich verunsichert nach. Jaspers Verhalten ließ mich innerlich aufhorchen, etwas stimmte nicht. Und ich hatte Angst, dass dies noch nicht alles gewesen sein könnte.

Brooks Miene wurde von einem unsicheren Schatten befallen, als sie herum druckste: „Ich hoffe nicht. Doch dafür sollte er sich erst einmal ausruhen, und dann frage ich morgen mal meine Mum, ob man noch etwas tun muss."

„Okay", ich war nicht beruhigt, nicht im geringsten, aber zumindest ließ Brooks Antwort meinen Herzschlag ein wenig langsamer schlagen. Ich nickte bestimmt und griff unter Jaspers Achseln, der noch immer auf dem Boden saß.

„Dann wollen wir dich mal nach Hause bringen."

„Aber warum?", er sah mich böse an. „Mir geht es gut, seht ihr?" Zur Bestätigung seiner Worte richtete er sich ohne meine Hilfe auf und strich den Dreck von seiner Hose ab.

„Das ist nicht dein Ernst?", ich starrte ihn fassungslos an. Dann blickte ich mit hochgezogener Augenbraue der Reihe nach in die Gesichter der andern. Erst meine Freundin hielt meinem Blick stand.

„Shy hat Recht", sie nickte leicht zu und ich war unglaublich froh über ihren Rückhalt. „Jas, du gehörst ins Bett. Es bringt niemanden etwas, wenn du noch länger hier bleibst."

„Mmmh", Jasper grummelte etwas Unverständliches, stemmte sich nun jedoch nicht mehr gegen meinen festen Griff, der seine Ellenbogen umklammert hielt. Gemeinsam verließen wir das Bahnhofsgebäude und ließen den Vorfall hinter uns.


The blind BadboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt