27. Es gibt für alles ein erstes Mal

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Nervös strich mir gefühlt das hundertste mal an diesem Tag durch die – mittlerweile ziemlich ruinierten – Haare und seufzte leise vor mir hin.

Bereits etwas ungeduldig wippte ich von einen auf den anderen Fuß, während ich mich an das Außengeländer des Sportplatzes anlehnte.

Dabei horchte ich mit angespannter Miene auf jedes noch so kleinstes Geräusch, um ja nicht von Shy überrascht zu werden.

Ich hatte vorsichtshalber die Sportsachen bereits in der Toilette angezogen und meine Laufschuhe mitgenommen. Wer wusste schon, was sie mit mir vorhatte?!

Auf einmal hörte ich schnelle Schritte über den Schotterweg auf mich zukommen: „Da bist du ja", wurde ich von Shy begrüßt.

Okay, ehrlich gesagt hört sich eine Begrüßung anders an, aber sei's drum.

„Dir auch einen schönen Tag", meinte ich, doch es kam ein wenig beleidigter rüber, als ich es vorgehabt hatte.

„Komm schnell, die anderen fangen gleich an!", ignorierte sie meinen Hinweis und zog mich leicht am Arm nach links, als ich mich nicht bewegte.

Die Berührung verursachte bei mir eine Gänsehaut, weil ich mich seltsamerweise an den Abend erinnerte, an dem wir uns zum ersten mal begegnet waren.

Wo sie genau wie jetzt an mir gezogen hatte, um mich vor dem vermeintlich sicheren Tod zu bewahren. Was natürlich völliger Schwachsinn gewesen war.

Nach ein paar Schritten ließ sie meine Jacke los und marschierte an der Abgrenzung entlang zu den Tribünen.

Mit ein wenig Angst wurde mir klar, dass ich mich hier auf gefährlichen Terrain befand. Ich kannte mich so gut wie kaum auf dem Sportplatz aus, er war einfach zu groß, um sich alle Schritte zu merken.

„Hast du schon einmal Leichtathletik gemacht?", fragte sie mich auf einmal aus heiterem Himmel und ich schaffte es geradeso, sie nicht verwirrt anzublicken und zu fragen, was sie gesagt hatte.

„Ähm...Nein?", antwortete ich schnell und hoffte, dass es die richtige Antwort war.

Mein Gott, reiß dich mal zusammen!, drängte mein Inneres und ich schluckte die Peinlichkeit herunter.

„Nicht schlimm", redete sie weiter, „wir haben oft Quereinsteiger. Mach mir einfach alles nach und dann wird das schon klappen!"

Wenn du wüsstest...

Einfach so nachmachen? Wie sollte ich das verdammt noch einmal hinkriegen? Dieses ganze Unterfangen war ein Fehler gewesen. Ich hätte mich nie darauf einlassen dürfen. Und jetzt war es zu spät.

„Wir laufen uns zuerst ein, dehnen uns und machen noch ein bisschen Koordination. Ich glaube heute steht Kugelstoßen auf dem Plan."

Ich spürte, dass sie mir einen prüfenden Blick zuwarf. Ihre Stimme klang ein wenig kratzig, als sie meinte: „Die nötige Kraft hast du bestimmt."

Automatisch wanderte mein Blick ebenfalls an mir hinunter, nur mit dem Unterschied, dass ich nur einen ganz schwachen, schwarzen Schemen erkennen konnte.

„War das etwa gerade ein Kompliment?", grinsend stemmte ich die Hände in die Hüfte und blickte sie herausfordernd an.

Wie gern wüsste ich jetzt, ob sie rot geworden war. Aber so hörte ich nur das leichte Stottern, bis sie sich schnell wieder gefangen hatte.

„Ich ... kann sein. Lenk' jetzt nicht vom Thema ab! Los komm, wir müssen loslaufen!"

Auf einmal spürte ich einen schwachen Windhauch, der an mir vorbei schoss und schloss mich ihm schnell an.

Unauffällig schaltete ich meine Microchips an und orientierte mich an der Bahnbegrenzung, während ich den anderen hinterherlief. Nach ein paar Schritten spürte ich, wie Shy neben mir lief.

„Wenn irgendetwas nicht stimmt mit deinem Herz, dann musst du das sagen, okay?", irrte ich, oder klang da ein wenig Sorge durch?

Innerlich versuchte ich mich nicht erneut dafür zu verurteilen, dass ich sie anlügen musste. Schließlich litt ich nicht an Herzproblemen.

„Mache ich. Keine Sorge", antwortete ich ihr und zwang mich zu einem Lächeln, dass sie fürs erste zu beruhigen schien.

Ich hasste es. Aber wer nicht mit der Wahrheit leben konnte musste so handeln. Und ich konnte es eindeutig NICHT.

Nach ein paar Minuten hatte ich auch das Aufwärmen so semi erfolgreich bestanden und folgte jetzt Shy und ein paar anderen Schülern, nachdem sie mir zwei schwere Kugeln in jede Hand gedrückt hatte.

Ich hatte die anderen schon murmeln hören, als ich auch nur in ihre Reichweite gekommen war.

„Ist das Leke Flynn? Was macht er hier?" und „Ich dachte wir sind zu uncool für solche Typen" waren da nur die harmlosesten Varianten.

Aber es gab auch manch anerkennende Sprüche, meist von Mädchen. Die Jungs schienen nicht so gut auf mich zu sprechen. Komisch.

„Hast du schon einmal Kugelstoßen gemacht?", hörte ich Shys Stimme zu meiner Linken und wandte mich ihr kopfschüttelnd zu.

„Okay, dann zeige ich dir jetzt die erste Bewegung?!", irgendwarum klang ihre Stimme ein wenig unsicherer als sonst, als sie sich vor mich in den Ring stellte und etwas vormachte.

Natürlich sah ich nichts von dem, was sie mir in einzelnen Schritten verdeutlichen wollte. Aber ich hörte gut zu und versuchte mir ihre Worte so genau wie möglich einzuprägen.

„Zuerst stehst du frontal mit den Füßen zum Sektor, du wendest dich nur ganz leicht mit dem Oberkörper nach rechts und stößt fast nur aus dem Arm heraus nach vorne!"

Ich bemerkte mit einem Grinsen im Gesicht, dass sie sich in ihrem Element befand. Das war ihr Ding und sie versuchte, es mit mir zu teilen.

Eigentlich müsste ich selber am besten wissen, wie schwer so etwas war und wie viel es bedeutete.

„Leke?", auf einmal griff eine warme Hand nach der Kugel in meiner Linken und nahm sie mir ab.

„Alles klar, nach vorne!", wiederholte ich ihre Worte wie ein Mantra und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, bis ich durch ein hohes Piepsen in meinem Ohr mitgeteilt bekam, dass ich an der weißen Kante angekommen war.

Ich setzte die Kugel an und wollte schon stoßen, als mich auf einmal ein befehlerisches „Halt!" innehalten ließ.

„Was?", murmelte ich verwirrt und drehte mich zu ihr um.

Doch auf einmal war sie mit ihrem Körper neben meinem und griff bereits mit einer Hand nach meinem rechten Ellenbogen, um ihn in einen rechten Winkel zu drücken.

Ganz automatisch wurde ich mir plötzlich ihrer Nähe bewusst und versuchte nicht, rot anzulaufen.

Die Berührung verursachte ein Kribbeln in meinem Arm, dass sich immer weiter ausbreitete, als sie auch noch die Hände um meine Hüfte legte und sie sachte nach vorne drehte.

Ich fühlte mich erneut seltsam an die Nacht auf dem Bahnhofsgebäude erinnert, als sie mich von der Mauer zurück zerrte.

„So ist es besser!", murmelte sie mit einer Überzeugung in der Stimme, dass ich mir gar nicht mal mehr so sicher war, ob sie meine Haltung oder unsere Verbindung meinte.


The blind BadboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt