60. Die Wahrheit

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Shys Sicht:

Ich traute mich nicht zu atmen, während ich Lekes Worten lauschte. Diese verdammten Worte, von denen ich nicht wusste, was sie bedeuteten.

Ich kann nicht.

Was wollte er mir damit sagen? Dass das zwischen uns nicht ging, was auch immer es war? Das ich meine Hand von seiner Wange nehmen sollte, die noch immer die Feuchtigkeit seiner Tränen spürte?

Was kannst du nicht?", hauchte ich ihm entgegen, verwirrt und verängstigt zugleich. Gerade erst hatte ich es geschafft, ihm näher zu kommen. Und ich hatte wahnsinnige Angst, dass er das gerade kaputt machte.

Mein Magen hatte so lange verrückt gespielt, bis ich es endlich verstanden hatte: Ich war in Leke verliebt.

Ich liebte seine freche Art, aber auch seine ruhigen Momente. Seine Verkorkstheit genauso wie seine Geheimnisse. Doch es war an der Zeit, sie mir zu zeigen. Sich mir anzuvertrauen.

Genauso wie ich es getan hatte.

„Ich", erneut stammelte er, seine Miene zu einer angestrengten Grimasse verzogen. Er sah so unglücklich aus. Und ich musste einfach wisse, ob das an mir lag.

„Leke. Was auch immer es ist, du kannst es mir sagen. Bitte, sag es mir. Ich verspreche, dich nicht zu verurteilen, aber sag es mir!"

Ich merkte selbst mir die Verzweiflung an, die sich langsam eingeschlichen hatte. Sie lag über uns beiden, in diesem Treppenhaus, dass das Schulgebäude mit der Turnhalle verband und nun unser Fluchtort war.

Ganz langsam sank der Junge, den ich so lange Idiot genannt hatte, der mich so oft geärgert hatte und mir immer zu verstehen gegeben hatte, dass er ungebrochen war, vor mir zu Boden.

Mit Tränen in den Augen starrte ich auf ihn hinunter, wie er da saß, ein Häufchen elend. Oh mein Gott. Mein Herz brannte, ihn so zu sehen, tat mir weh.

„Nimm...nimm mir die Brille ab!", flüsterte er auf einmal in die furchtbare Stille hinein, sein Kopf kraftlos nach unten gerichtet.

Ich schluckte, während ich mich vor ihn hockte. „Was soll das, Leke?"

„Mach schon", befahl er mit bebender Stimme.

Ganz langsam streckte ich meine Hand erneut zu seinem Gesicht aus, nur das ich dieses mal nicht seine Haut berührte, sondern das kühle Metall seiner schwarzen Sonnenbrille. Diese, die ich schon so oft verflucht hatte, weil ich nicht einmal wusste, welche Augenfarbe er hatte.

Sei froh, dass das hier ein Spiel ist, Mr. Flynn, in Echt würde ich dich nämlich niemals küssen. Vor allem nicht mit dieser scheußlichen Sonnenbrille!, kamen mir meine Worte wieder in Erinnerung, die ich ihm bei dem WWOP-Spiel ins Ohr geflüstert hatte. Wie viel sich seit diesem Moment geändert hatte.

Ohne es zu wollen zitterten meine Finger, während ich die Brille von seinem Gesicht streifte. Seine Augen waren geschlossen, doch nun öffnete er sie langsam.

„Was siehst du?", fragte er, seine Lippen danach zu einen dünnen Strich zusammen gepresst.

„Ich...", was sollte das werden? Eine Pfandfrage? Irgendwarum traute ich mich nicht zu antworten.

„Sag schon!"

„Dunkelbraun", murmelte ich, während ich ihn durchweg anstarrte. Doch seine Augen starrten nicht zurück. Ich sog den Eindruck in mich auf, schnell und gierig, weil ich Angst hatte, ihn so nie wieder zu sehen.

„Was?", er klang irritiert, als hätte er etwas anderes erwartet.

„Deine Augen", führte ich aus, „sie sind dunkelbraun. Und wunderschön."

Er schüttelte den Kopf, nun ärgerlich. Innerlich zuckte ich zusammen, da ich seine Reaktion nicht erwartet hatte.

„NEIN!", seine Stimme war lauter geworden. „Was siehst du?"

„Deine Haut darum herum ist weißer als die restliche, aber das ist ja kein Wunder, wenn da nie Sonne hinkommt...", ich stockte, unfähig, weiterzusprechen. Mir war etwas aufgefallen. Dieses milchige seiner Augen, dass ich im geringen Lichtschein von unten kaum erkennen konnte. Es überzog wie ein leichter, sanfter Schleier seine Augen.

„Was meinst du, warum ich sie trage? Die Brille?", hakte Leke nach, seine Stimme so verbittert, wie ich sie noch nie gehört hatte.

„Ich... weiß nicht-..."

„Lüg' nicht!"

„Sei kein Idiot, Leke! Ich weiß wirklich nicht, was du meinst!", ohne es zu wollen wurde ich selber wütend. Seine grimmige Art machte mich zunehmend wütender. Dazu kam, dass ich nicht wusste, was er von mir wollte.

„Sag es! Sag, was du denkst!", lauter und lauter. Seine Stimme wurde immer lauter.

„Du machst mir Angst", flüsterte ich, es kam einfach aus meinem Mund uns sofort bereute ich die Worte. Doch es war zu spät. Was auch immer das hier war, wir würden es zu Ende bringen müssen. Doch ich hatte unheimliche Angst vor den Folgen.

„Sag es!"

„Hörst du denn nicht? Sag du es mir!", ich schrie. Schrie ihn an, meinen Frust hinaus, aber der Druck auf meinem Herzen wurde nicht besser.

„Weil ich blind bin!", Leke brüllte mich an, sein Gesicht ganz rot, seine Augen verzweifelt. Was darauf folgte war eine seltsame Stille, wie ich sie noch nie erlebt hatte.

Ganz langsam schienen seine Worte bei mir anzukommen und es schien Minuten, gar Stunden zu dauern, bis ich ihren Inhalt verstanden hatte.

Auf einmal brach alles in mir zusammen, das ganze Bild, das ich von ihm hatte, zersprang in tausend Einzelteile, wie ein kaputter Spiegel. Meine Knie gaben nach und ich sank ganz auf den kalten Boden.

Blind.

Das konnte einfach nicht wahr sein.

„Aber...wie?", ich wollte einfach nur noch verstehen. Wollte dieses Gefühl in meinem Inneren verdrängen, um die Wahrheit betrogen worden zu sein, wollte nun alles wissen.

Es passte einfach noch nicht zusammen, doch je mehr Zeit verging, desto schneller setzten sich die gerade erst zerbrochenen Einzelteile zu einem neuen Bild zusammen.

Einem, in dem Leke nicht ohne Grund tollpatschig war. In dem er nicht ohne Grund das falsche Müsli gegessen hatte, das er gar nicht vertrug. In dem er nicht ohne Grund die Selbsthilfegruppe besuchte. Ein Bild, in dem einfach alles einen Sinn hatte.

„Nach einem Unfall vor vier Jahren besitze ...besitze ich nur noch fünf Prozent meines vorherigen Augenlichts. Das ist ...", er stockte, schluckte, versuchte krampfhaft, nicht zu weinen, „das ist fast nichts."

Jetzt war ich diejenige, die ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Es nahm mich mit, dieses große Geheimnis, das nun keines mehr war.

Blind.

Plötzlich sah ich ihn mit anderen Augen, sah ihn, wie er wirklich war, wie ich glaubte, dass er war. Kaputt und traurig. Aber dennoch auf seine Art glücklich. Doch dieser Moment war unglaublich schwer für ihn.

In Sekundenschnelle wiederholte ich all meine Erinnerungen mit ihm und versuchte, die Informationen noch besser zu verarbeiten. Auf einmal fiel mir etwas auf, was mich zusammenzucken ließ.

„Du hast gesagt, du hättest Herzprobleme!"

Seine Augenlider sanken zu Boden. Selbst wenn er mich nicht sehen konnte versuchte er dennoch, meinem Blick auszuweichen.

„Das war eine Lüge, nicht wahr? Es war alles eine Lüge."

Ich konnte nicht anders, ich musste es einfach sagen. Weil ich endlich die Wahrheit wusste. Die Wahrheit über Leke Flynn.


The blind BadboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt