75. Hilflos

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Lekes Sicht:

Ich hörte Sirenen und Menschen, die Befehle brüllten. Schritte, Trampeln, das Rauschen des Wassers. Alles um uns herum schien sich zu bewegen und nur wir schienen still zu stehen. Als würden wir die Sonne sein und alles andere die Planeten und Monde, die ihre Bahnen um uns herum zogen.

„Hier nach wird nichts mehr so sein wie zuvor", murmelte Shy auf einmal mit abwesender Stimme. „Das Feuer brennt noch. Kannst du es sehen?"

„Ja", antwortete ich mit erstickter Stimme. Ich hatte es die ganze Zeit sehen können, so gut wie schon lange nichts mehr in meinem Leben.

„So etwas möchte ich nie wieder erleben."

Es war ein Versprechen, dass ich ihr nur zu gerne geben würde. Ich auch nicht, dachte ich mir bitter, doch behielt es für mich. Du musst jetzt positiv sein, für sie. Du musst ihr das Gefühl geben, stark zu sein.

„Das werden wir nicht. So ein Unglück geschieht nicht zweimal", erwiderte ich voller Überzeugung. Die Engel hatten es gut mit uns gemeint. Sie wollten anscheinend, dass wir lebten. Deswegen konnte ich mir der Sache auch so sicher sein.

„Ich hoffe, du hast Recht. Wenigstens einmal", es schien, als würde sich ein leichtes Lächeln hinter ihren Worten verstecken. Kein Wunder, sie hatte mich gerade indirekt beleidigt. Da war sie wieder, meine alte Shy. Jetzt musste ich ihr nur noch helfen, wieder ganz zum Vorschein zu kommen.

„Entschuldigung?", unterbrach uns auf einmal erneut die tiefe Stimme, die ich eben schon vernommen hatte. Ich zuckte erschrocken zusammen, als sich meine Liege bewegte. „Der Krankenwagen ist jetzt da. Kommen Sie direkt mit?"

Er sprach eindeutig mit Shy. Diese schien jedoch verblüfft. „Ich?"

„Alle, die in der Scheune waren, kommen erst einmal zur Kontrolle mit. Keine Sorge, ihre Eltern werden bereits informiert."

„Das ist ja ... toll", sie versuchte, ihren Groll zu verbergen. Ich war erst einmal bei ihr zuhause gewesen. Damals war keiner ihrer Familie da. Doch ich hatte jetzt keine Gelegenheit, mir darüber Gedanken zu machen. Mein Kopf drehte sich noch immer viel zu schnell.

Währenddessen wurde ich bereits in den Wagen geschoben, ich hörte das Klicken, als meine schiebbare Trage einrastete. Shy nahm neben mir Platz. Doch noch jemand stieg zu uns in den Krankenwagen.

„Schnallen Sie sich bitte an!", befahl uns der Mann von vorne. Zwei Gurte rasteten ein. Nur zu gerne wüsste ich, wer mit uns im Auto saß. Es konnte keiner unserer Freunde sein, sonst hätte er schon längst etwas gesagt.

„Wie geht es dir?", durchbrach ich die Stille.

Er schien überrascht, dass ich ihn ansprach. „Es geht schon. Danke", murmelte Logan. Er war der letzte gewesen, der die Leiter hinunter geklettert war, daran konnte ich mich nur zu gut erinnern.

Der Fahrer benutzte keine Sirene, als wir losfuhren. Sie schienen sich sicher zu sein, dass es nicht all zu ernst um uns stand. Doch wie ging es bloß Jasper und Zack? Und was war mit dessen Bein?

„Deine Hand", entfuhr es Shy auf einmal. Verwundert hob ich eine Augenbraue, doch hielt die Augen geschlossen. Meine Sonnenbrille lag wahrscheinlich noch irgendwo auf dem Dachboden, wo das Feuer sie verschlang.

Ich spürte, wie sie sanft mit den Fingern über meine Haut strich, vorsichtig, behutsam. „Sie sieht nicht gut aus", murmelte sie besorgt.

Erst jetzt fiel mir wieder ein, wie ich mit der Hand über die Kante gefahren war. Wie ich die Leiter hatte finden wollen und wie sich die Holzspäne in meine Haut gebohrt hatten wie kleine Nadeln.

Schnell entzog ich mir ihren Griff und versteckte meinen Arm unter der leichten Aludecke, die jemand um mich gewickelt hatte. Ich wusste, dass die Späne nicht das einzige gewesen waren, die sich meinem Körper bemächtigt hatten.

„Es geht mir gut!", wiederholte ich die Worte wie ein Mantra. Shy brauchte etwas, an dem sie festhalten konnte. Auch, wenn es nichts festes war. Ein Griff war nicht immer mit etwas Materiellen verbunden, Worte konnten genauso gut ein rettende Seil darstellen.

Logan sagte die ganze Fahrt über nichts. Er schien genau wie wir noch immer von den Erlebnissen völlig überfordert. Ich verstand ihn. Es war schwer zu realisieren. Und doch war es Realität, sie schmeckte nicht immer süß und angenehm, aber sie war real. 

Auf einmal wurde dir Tür geöffnet und wir drei zucken erschrocken zusammen. Diese Stille hatte etwas beruhigendes gehabt und nun wurden wir erneut in die Hektik und den Stress geworfen. Es schien, als würden alle durcheinander reden, und doch besaß alles einen Sinn, wie ein riesiges Puzzle, welche Teile nur von weit weg betrachtet einen Sinn ergaben.

„Hier lang", wies Shy und Logan eine Schwester an, während meine Trage aus dem Wagen geschoben wurde. Ich spürte, dass es in die andere Richtung ging. „Er kommt erst einmal in die Intensivstation. Er war mit den anderen beiden am längsten den Flammen ausgesetzt!", hörte ich wieder die tiefe Männerstimme von vorhin.

Ich versuchte ruhig zu atmen. Es war alles einfach zu viel. Und nun war ich auch noch von Shy getrennt, die von Anfang an da gewesen war. Jetzt erst bemerkte ich, dass nicht ich ihr, sondern sie mir Halt gegeben hatte.

„Was ist mit Jasper Maion und Zack Rhys?", frage ich die Person, die mich offensichtlich durch die Nacht schob.

„Ich weiß es nicht", antwortete eine junge Frauenstimme. Die falsche Antwort. Denn ich wollte hören: es geht ihnen gut. Wenigstens war sie ehrlich.

„Kann ich zu ihnen?", ich wollte mich aufrichten, doch wurde sofort wieder auf die Liege gedrückt.

„Hey", die Frau klang leicht überrascht über mein Aufgebehren. „Du musst erst selbst untersucht werden!"

„Aber mir geht es gut!" Ich wusste nicht, wie oft ich diesen Satz heute schon gesagt hatte. Zu oft.

„Das entscheidet der Arzt", antwortete sie und fügte mit sanfterer Stimme hinzu. „Am besten du schläfst einfach ein wenig."

„Nein!", erwidere ich störrisch. Sie konnte mich nicht einfach von meinen Freunden fernhalten! Ich musste zu ihnen. Da konnte ich doch nicht einfach schlafen?!

"Ich möchte sie sehen!", drängte ich verzweifelt. Ich fühlte mich so unglaublich hilflos. Die wenige Macht, die ein Mensch besaß, wurde mir gerade genommen.

Die Schwester seufzte und klang zum ersten mal gestresst, als sie an jemand anderen flüsterte. „Ein Beruhigungsmittel bitte. Sonst gibt er keine Ruhe."

„Nein!", wiederholte ich kopfschüttelnd. Schnell setzte ich einen Fuß aus der Liege, doch als ich endlich festen Boden unter den Füßen hatte erschienen auf einmal schwarze Punkte vor meinen Augen. „Oh", murmelte ich überrascht und versuchte mein Gewicht auf dem Bett zu halten. Ich spürte, wie mir jemand unter die Arme griff und mir half.

„Jetzt überzeugt?", die Schwester schob mich weiter vorwärts. Doch ich antwortete nicht. Müde und frustriert zugleich presste ich meine Lippen aufeinander, während ich spürte, wie mir jemand eine Spritze in die Armbeuge stach.

Schon nach wenigen Sekunden breitete sich das Mittel über meine Venen aus. Die Augen öffnete ich nicht mehr.


The blind BadboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt