87. Die Zeit heilt alle Wunden

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Lekes Sicht:

„Weißt du noch, wo wir aufgehört haben?", flüsterte ich ihr lächelnd ins Ohr, während sie vorsichtig Jaspers Haustür zumachte, um ja keinen zu wecken.

„Du meinst, als Zack uns so rüde unterbrochen hat?!", Shy lachte leise auf, als wir beide an die Szene zurückdachten.

„Ja, genau da", ich konnte nicht verhindern, dass sich langsam ein Grinsen auf meine Wangen schlich. Ich griff bestimmt nach ihrer Hand und verschränkte Shys Finger mit meinen, während wir von dem kleinen Gartenweg auf den Fußgängerweg abbogen.

„Sollen wir zu dir gehen?", ihre Stimme klang unsicher. Ich wusste ja selbst nicht wie weit wir gehen konnten, nachdem wir uns gerade wieder vertragen hatten.

„Das ist auf jeden Fall am kürzesten", murmelte ich und zog sie schon nach links, nachdem wir einige Sekunden unsicher stehen geblieben waren. Ich genoss es Hand in Hand mit ihr die Straße hinunter zu laufen, auch wenn es mitten in der Nacht war, Jasper gerade eben noch bewusstlos gewesen war und meine Augen beinahe zufielen.

Denn Shy, dieses unglaubliche Mädchen, welches mir vom ersten Moment den Kopf verdreht hatte, machte mich wacher, als jeder Kaffee es je vermocht hätte.

„Pscht", formte ich mit den Lippen, als wir lachend die Treppe nach oben stolperten. „Mein Dad schläft bestimmt schon."

Ich zog Shy hinter mir her in mein Zimmer. Gerade, als ich das Licht anmachen wollte, spürte ich wie sich ihre warme Hand um meinen Arm schlang. „Nicht", murmelte sie nahe meinem Ohr, sodass ich eine Gänsehaut bekam. „Lass es aus. Ich will, dass wir das Gleiche sehen."

Mein Herz schlug bei ihren Worten schneller und ich zog sie noch fester an mich, um sie ganz fest zu drücken. „Du weißt nicht, wie verdammt ich dich liebe."

Dann umfassten meine Hände ihren Hinterkopf und ich beugte mich vor, um sie zu küssen. Sie schlang ihre Arme um meinen Nacken und zusammen taumelten wir zu meinem Bett, sodass wir schließlich kichernd aufeinander landeten.

Schon lange hatte ich mich nicht mehr so jung und verliebt gefühlt. Es war wie beim ersten Mal, als ich Shy meine Liebe gestanden hatte uns sie sie erwidert hatte. Alles prickelte, alles fühlte sich unglaublich neu an, alles war einfach nur perfekt.

Ich fing an, sie am Hals entlang zu küssen, zärtlich und so langsam, wie ich es zulassen konnte, ohne durchzudrehen. Sie wand sich mir unter meinen Lippen entgegen, drängte ihren Körper gegen meinen, während ihre Finger mir langsam den Pullover und dann das T-shirt auszogen. Sie wollte es, genauso wie ich, alles schrie in unseren Körpern danach, sich zu vereinigen, endlich eins zu sein, wie es zwei Menschen nur sein konnten. Wir konnten nicht anders, denn alles fühlte sich einfach nur perfekt an.

***

„Ich habe eine Frage, eine ziemlich persönliche. Darf ich sie stellen?"

Ich richtete mich ein wenig auf, verwirrt und doch bestärkt in dem Vertrauen zu ihr. „Natürlich. Alles, was du wissen willst." Ich spürte den Druck ihrer Hände auf meiner Brust überdeutlich, wie ihr Daumen langsame Kreise beschrieb, welche eine prickelnde Spur auf meiner Haut hinterließen.

Shy räusperte sich, ich merkte ihr an, dass ihr die Frage unangenehm war. „Ich kann mir gar nicht vorstellen wie es wohl ist, wenn man so wenig sieht wie du. Nur undeutliche Schemen, schwarz und weiß. Dunkelheit. Aber ... ich frage mich. Ist es bei dir so wie bei allem anderen?

Ich meine, wir befinden uns seitdem wir in diesem Zimmer sind in Dunkelheit. Aber langsam ... es kommt mir so vor, als würde man sich langsam daran gewöhnen. Tust du das auch? Hast du dich an die Schwärze gewöhnt?"

Ich schluckte. In meinem Kopf wirbelten allerhand Antworten, die ich ihr geben konnte. Ausflüchte, aber auch Wahrheiten, sorgsam verkleidet in Unwissenheit.

„Ich denke schon", sagte ich schließlich mit leiser Stimme, als wolle ich es selbst nicht wahrhaben. „Kennst du den Spruch: die Zeit heilt alle Wunden? Ich habe das Gefühl, dass jemand sehr weises ihn gesagt haben muss. Oder aber jemand, der schon sehr viel Schmerz in seinem Leben erfahren hat.

Denn es ist tatsächlich so: je weiter die Zeit fortschreitet, je länger etwas her ist, desto weniger denkt man daran. Jeder kennt das. Es wird unwichtiger, jeden Tag, jede Minute deines Lebens. Und solange du nicht daran denkst ist alles gut."

„Und wenn du daran denkst? Wenn du dir vorstellst, was einmal gewesen ist? Was du alles verloren hast?"

„Dann kann einem nicht einmal die Zeit helfen." Meine Stimme war so ernst wie schon lange nicht mehr, doch ich meinte jedes Wort genauso wie ich es sagte. „Dann ist man den Gefühlen machtlos ausgeliefert und nichts vermag einen zu helfen. Man selbst muss es schaffen seine Wunden zu schließen, sie zu verkraften. Man muss mit sich selbst einen Kompromiss schließen."

„Aber bei dir ist es keine Sache, die einfach so verjährt. Es ist kein schwarzer Tag, niemand ist gestorben, an den du tagtäglich erinnert wirst. Doch dein Augenlicht, das wird dir immer fehlen. Und du weißt ganz genau, was du verloren hast. Du weißt, wie es damals ausgesehen hast, über welche Farben du in deinem Leben verfügt hast, die nun weg sind."

Shys Hand zitterte. Sie wollte es verstehen, wollte mich verstehen, und dafür brauchte sie Antworten. Das war mir bewusst und ich war selbst nicht in der Lage, ihr diesen Wunsch zu verweigern.

Deswegen schüttelte ich ernst den Kopf. „Nein, so ist das nicht. Denn ich habe irgendwann verstanden, dass es nicht darum geht, was man verloren hat, sondern um das, was man gewonnen hat."

„Und was hast du gewonnen? Wir kannst du nur so positiv denken, wenn für andere die Welt zusammen brechen würden, wenn sie du wären und nicht mehr richtig sehen könnten?"

„Nun ja", ich fuhr sachte mit der Hand über ihre Haare und drehte sie in meinen Fingern. „Ich habe dich, nicht wahr?"

Sie lachte leicht, doch der Witz, welcher keiner war, erhellte sie nur kurz.

„Wenn ein Sinn wegfällt denken die meisten Menschen immer, dass man nun schlechter ist als die anderen. Doch das stimmt nicht. Nein, im Gegenzug werden die anderen vier Sinne umso stärker. Riechen", ich beugte mich nach vorne und vergrub meine Nase in ihren Haaren, um einmal tief ein und aus zu atmen.

„Hören", flüsterte ich in ihr Ohr, führte ihren Kopf zu meiner Brust und wartete darauf, dass sie das hörte, was auch ich hörte. Bumm, bumm, bumm. Ein schneller, aber stetiger Herzschlag. Mein Herzschlag.

„Schmecken", sagte ich grinsend, zog sie ruckartig hoch, sodass sie einen überraschten Schrei ausstieß und küsste sie voller Leidenschaft, sodass ich ihre Lippen auf meinen schmecken konnte. Süß nahmen meine Geschmacksknospen sie an und ich ließ sie wild atmend los.

„Und schließlich – fühlen." Augenblicklich fuhr meine Hand ihren Arm hinauf, fühlte die kleinen Härchen auf ihrer Haut, welche sie berührt aufgestellt hatten. Ich fuhr weiter unter die Decke, über ihren Bauch. Ließ meine Finger sanft über ihre Haut kreisen und küsste sie erneut.

„Verstehst du?", fragte ich am Ende und ließ von ihr ab, um ihr ein wenig Zeit zum nachdenken geben zu können.

„Ich glaube schon", murmelte sie nach einer Weile. „Mir wird immer wieder erneut klar, wie stark du eigentlich bist. So stark. Obwohl man es nicht erwarten müsste hast du es geschafft, das Beste aus alledem zu machen. Und das ist nicht selbstverständlich."

„Das habe ich nicht alleine geschafft", murmelte ich lächelnd über ihre Worte und dachte an meine besten Freunde, die mir einen Sinn im Leben gezeigt hatten.

„Ja", flüsterte sie mitgenommen, „wir brauchen sie alle. Freunde."


The blind BadboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt