31. Guter-willen-lüge

4.2K 276 3
                                    

Shys Sicht:

„Komm schon Brook!", versuchte ich die Blondhaarige dazu zu bewegen, mir den Grund zu nennen, weshalb Leke die Selbsthilfegruppe besuchte.

„Shy, das geht wirklich nicht. Ich dachte, wir wären mit dem Thema durch."

Ich spürte, dass Brook meinem bohrendem Blick auswich. Aber ich konnte sie einfach nicht in Ruhe lassen.

Tief in mir drängte alles danach, mehr über den tollpatschigen, braunhaarigen Jungen zu erfahren, der sich so mir nichts dir nichts ohne anzuklopfen in mein Leben gedrängt hatte.

„Ich will ihn doch nur ein bisschen besser kennen lernen!", versuchte ich sie umzustimmen.

Auf einmal schlug mein Fahrrad zur Seite aus und ich musste mich bemühen, es im Gleichgewicht zu halten. Wir kamen gerade von der Innenstadt und waren auf dem Weg zu Brooks Haus.

Ich erkannte schon die gewohnte Straße, die von vielen, dichten Bäumen links und rechts umstellt war. Genauso wie die vielen Pflanzen in den Vorgärten genossen sie die warmen Sonnenstrahlen.

„Dann rede mit ihm, und nicht mit mir! Du würdest auch nicht wollen, dass man deine Geheimnisse an fremde Leute ausplaudert", widersprach sie mir laut.

Ich schnaufte auf. „Fremde Leute", wiederholte ich sie mit anklagender Stimme, „aber ich kenne ihn doch schon!"

„Das denkst du", man merkte ihr an, dass sie ihre Aussage augenblicklich bereute. Enttarnt biss sie sich auf die Lippen, während sie den Blick starr nach vorne richtete.

„Brook! Was soll das heiß-"  -en?

„Ist das etwa Leke?", unterbrach ich mich selber mit staunender Stimme und riss die Augen auf.

Tatsache, je näher wir ihm kamen, desto besser konnte man es erkenne.

Der braunhaarige Junge, der auf der Bordsteinkante saß und an dem die Autos mit gefährlicher Nähe vorbei fuhren, war Leke. Er hatte die Arme über die Knie geschlungen und den Kopf zwischen den Beinen versteckt.

„Leke?", Brook hatte vor ihrem Haus angehalten und redete nun mit sanfter Stimme auf ihn ein, „Ist alles in Ordnung?"

Nein, wollte ich für ihn antworten. Ist es nicht, das sieht man doch!

Leke zuckte bei ihren Worten zusammen und hob langsam den Kopf an. Seine Haare waren durch die Haltung hoffnungslos durcheinander gebracht und seine Lippen waren zu einem dünnen, wütenden Strich zusammen gepresst.

„Nicht ihr auch noch", presste er mit genervter Stimme hervor und sein Blick lag auf dem Haus gegenüber.

„Leke, was ist passiert?", hakte Brook mit besorgter Stimme nach und ließ sich vor ihm auf die Knie sinken. Währenddessen studierte ich seinen Gesichtsausdruck ganz genau.

Es sah nicht so aus, als hätte er geweint, vielmehr, als sei er einfach nur ... überfordert. Konnte man das so nennen?

„Nichts", zischte er mit grimmiger Miene. Ich hatte ihn noch nie so reden gehört. Ihn noch nie so gesehen. So wütend.

„Leke!", doch er ging gar nicht mehr auf Brook ein. Stattdessen wandte er sich an mich.

Ich spürte seinen kalten, stechenden Blick auf meiner Haut wie einen heftigen Wintersturm. Fast schaffte er es, mir meinen festen Halt unter den Füßen wegzureißen, als er meinte:

„Jetzt weißt du es auch, nicht wahr? Bist du jetzt glücklich? Ich weiß, dass du nicht dumm bist. Du kannst eins und eins zusammen zählen. Mich zwei mal vor ihrem Haus anzutreffen", er deutete mit dem Kinn auf Brook, „zur selben Zeit? Kein Zufall, hmm?"

„Ich...", begann ich zu stammeln. Ich wusste nicht, wie ich antworteten sollte.

„Nein, Leke Flynn geht zur Selbsthilfegruppe und am liebsten erzähle ich das jedem, der es wissen möchte."

Der Kloß in meinem Hals wurde von aufkeimender Wut unterdrückt und ich trat einen Schritt auf ihn zu: „Für wen hältst du mich eigentlich? Ja, ich weiß es. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich es irgendjemanden weiter erzählen würde."

„Bist du sicher?", flüsterte er. Aber das war keine Frage. Das war die Andeutung dafür, dass er sich sicher war, dass ich gelogen hatte.

„Du denkst wohl, das macht dich zu einem noch berühmteren Menschen, als ohnehin schon, was?", warf ich ihm ohne nachzudenken an den Kopf. Mein Verstand hatte schon lange aufgegeben.

„Und was meinst du?"

Und mit dieser einfachen Frage hatte er mich aus dem Konzept gebracht.

„Ich...natürlich nicht. Du bist immer noch der gleiche Idiot, der jetzt eben zu einer Selbsthilfegruppe geht..." Versuchte ich mich ganz galant, aus meiner eigenen Falle heraus zu reden.

„Du lügst", murmelte Leke mit seltsam vorwurfsvoller Stimme und sein Gesicht wurde von Traurigkeit überschattet.

„Nein!", widersprach ich ihm schnell und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Also siehst du mich jetzt nicht anders an als vorher? Du denkst dir nicht: ich weiß dein Geheimnis. Und das tut mir leid ?!"

Verzweifelt biss ich mir auf die Lippen. Wie konnte er genau das ansprechen, was ständig in meinem Kopf herum geisterte? Wie hatte er es wissen können?

„Nein!", log ich und fühlte, wie sich im selben Moment schlechtes Gewissen in mir breit machte.

Manchmal musste man lügen, um etwas besser zu machen. Und als ich Lekes Gesichtsausdruck sah, überrascht und hoffnungsvoll zugleich, da wusste ich, dass diese eine Sache war, für die es sich gelohnt hatte.

Meine Gedanken würde ich schon irgendwann in den Griff bekommen, und dann musste ich nicht mehr lügen.

Tief in mit drinnen wusste ich nämlich, dass ich mich nicht durch diesen Fakt, dass er zur Selbsthilfegruppe ging, beeinflussen lassen wollte.

Das war doch schon mal ein Anfang.


The blind BadboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt