53. Nichts ist normal

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Lekes Sicht:

Die Sirenen wurden immer lauter. Doch ich nahm sie nur ganz am Rande meines Bewusstseins wahr.

"Leke, komm schon, wir müssen hier weg!", Jaspers Gesicht war nur wenige Millimeter von meinem entfernt. Ich spürte seinen warmen Atem auf meinen Wangen, während er an meinen Schultern rüttelte.

Aber ich war nicht fähig zu antworten. Stattdessen starrte ich noch immer nach rechts, dort, wo Jack sein musste. Wo er auf dem kalten Asphalt lag und keinen Ton von sich gab.

"Schnell", brüllte Pacey mit angsterfüllter Stimme. Jedem von uns war der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Ich spürte, wie mein bester Freund nun unter meine Schultern griff und mich hoch zerrte.

Währenddessen kamen die lauten Sirenen immer näher und näher, bald würden sie uns erreicht haben.

"Die Bullen werden kommen und uns einbuchten, wenn wir jetzt nicht verschwinden!", Zacks Stimme bebte. Ich versuchte Jas zu helfen und mehr Gewicht auf meine Beine zu verteilen, doch sie fühlten sich an wie Wackelpudding.

"Was habt ihr euch bloß dabei gedacht?", Shade stellte sich anklagend vor uns. Ich wusste, dass er dabei besonders mich ansprach. Schließlich war ich dafür verantwortlich, dass Jack nun bewusstlos war.

Ich schaffte es nicht, ihm in die Augen zu blicken, selbst wenn ich ihn nicht sehen konnte, spürte ich seine Präsenz überdeutlich vor mir.

"Los jetzt!"

Im Nachhinein weiß ich nicht, wie ich von diesem Ort weggekommen bin, aber das ist auch egal. Schließlich habe ich es geschafft, bevor die Polizei oder der Krankenwagen auftauchte.

Die anderen meinten, ich wäre gerannt, aber das glaube ich nicht. Ich weiß nur noch, dass ich viel zu sehr mit meinen Gedanken beschäftigt war.

Auch, wenn ich Jack viel böses gewünscht hatte - so etwas hatte ich nie gewollt. Aber ich denke nicht, dass er mir das glauben würde. Wenn er denn je aufwachen würde.

"Oh Gott", fing ich an, vor mir hin zu murmeln. "Oh Gott."

Wir waren stehen geblieben. Keine Ahnung wo. Ich hatte schon von der ersten Sekunde an meine Orientierung verloren. Ich glaube, wir waren in irgendeinem Zimmer.

"Ich wollte das nicht!"

Meine Beine gaben unwillkürlich nach, als wären nun all meine letzten Kraftreserven aufgebraucht. Vor den anderen sank ich zu Boden und vergrub meinen Kopf zwischen meinen Beinen. Unter mir spürte ich weichen Teppich.

"Das wissen wir doch, Leke!", redete Jasper sofort auf mich ein. Ich spürte, wie er unaufhörlich auf und ab lief, wie ein Tiger im Käfig.

"Ich wollte das nicht!", wiederholte ich. Doch derjenige, dem ich das eigentlich sagen wollte, konnte es nicht hören. Denn er war nicht hier.

"Ich wollte das ni-"

"Verdammt, Leke! HÖR AUF!", ich zuckte erschrocken zusammen, als Zack mich anschrie. Er wirkte verzweifelt. So wie ich ihn kannte, rieb er sich mit den Fingern über die Stirn, die immer roter wurde. Das einzige Anzeichen für seine innere Unruhe.

Auf seine Worte folgte unangenehme Stille. Keiner von uns vieren traute sich, etwas zu sagen. Stattdessen starrten wir vor uns hin, als wäre uns ein Geist begegnet. Doch es war nicht Hui Buh, der seine Runden drehte, sondern der unaufhörliche Gedanke an das gerade Geschehene.

"Sie wissen, dass wir es waren!", sprach Pacey schließlich unseren Gedanken aus.

Ich nickte, Verzweiflung machte sich in mir breit. "Natürlich wissen sie es. Wir sind geliefert. Sie werden uns finden und dann..."

Ja, was dann? Würden wir ins Gefängnis kommen? Unwahrscheinlich. Sozialstunden und die Benachrichtigung unserer Eltern wären wohl eher eine Folge - eine grässliche.

"Meine Eltern werden mich fertig machen", murmelte Pacey mit erschöpfter Stimme. Er wirkte völlig resigniert.

"Frag mich mal", meinte Zack.

Ich versuchte gar nicht, mich weiter zu beteiligen. Was mein Vater sagen und tun würde wollte ich mir gar nicht ausmalen.

"Dabei wollten wir ihm doch nur eine kleine Lektion erteilen...", Jasper tigerte immer noch im Zimmer umher.

"Das ist uns wirklich gelungen!", warf Zack mit verächtlicher Stimme ein, "jetzt hält uns wirklich jeder für brutale Spinner!"

"Sind wir das denn?"

Niemand antwortete auf Paceys Frage. Denn niemand wollte sich der Wahrheit stellen. Es durfte einfach nicht stimmen. Es durfte nicht!

"Lasst es...", Jaspers Stimme stockte, er hielt zum ersten Mal inne, "lasst es uns einfach vergessen, okay?"

Ich hob meinen Kopf und starrte seinen schwarzen Schemen an. Sein Blick ging durch die Runde und ich kam mir vor wie in einer Verschwörung.

Durften wir überhaupt darüber nachdenken?

"Es wird ihm schon wieder besser gehen!", warf Pacey ein, er hatte sich als erster von uns bereits wieder etwas beruhigt.

"Wer weiß", fuhr er fort, "vielleicht hat er es ja sogar vergessen?"

Diese Vorstellung wäre einfach nur zu schön um wahr zu sein. Einfach so zu tun, als wäre nichts passiert. Als würden wir alle auf Wolke sieben leben und niemand konnte uns erreichen.

Wir starrten wieder alle vor uns hin, unfähig, ein normales Gespräch zu führen. Denn im Moment war wirklich nichts normal.

"Aber ich war es", fing ich auf einmal wieder an zu reden, meine Zunge bewegte sich automatisch, "ihr habt es nicht getan. Ich war es, nur ich allein und niemand sonst."

"Leke, das ist doch Unsinn!", widersprach Jasper mir sofort, aber es wirkte nicht mehr so wie am Anfang. Nein, ich wusste, dass er log.

"Ihr habt es nicht getan, ihr habt ihn nicht mit all eurer Kraft angerempelt. Ihr wart es nicht, weswegen er zu Boden gegangen ist, weswegen er gegen den Bordstein geknallt ist.

Nein, ihr wart es nicht.

Ich war es."


The blind BadboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt