Lekes Sicht:
„Lass doch", ich trat vor und versuchte ihm die Flasche aus der Hand zu nehmen, doch mein Vater drehte sich von mir weg. Ich griff ins Leere.
„Seit wann hast du mir vorzuschreiben, wann und was ich trinke?" Seine Stimme klang wütend. Ich hätte vorsichtiger an die Sache herangehen sollen.
Sie sind wie scheue Rehe, hatte Shy zu mir gesagt, man darf sie nicht erschrecken. Doch viel wichtiger ist, sich langsam an sie heranzutrauen, ihr Vertrauen zu gewinnen.
„Tut mir leid Dad, es war nicht so gemeint", presste ich daher zwischen zusammengepressten Lippen hervor und zwang mich zu einem reuevollen Lächeln.
„Das hoffe ich für dich", war alles, was er dazu sagte. Er saß wie meistens am Küchentisch und starrte durch das Fenster nach draußen. Das hatte er viel getan, nach Moms Tod.
Es war, als würde er noch immer auf sie warten und denken, sie würde einfach so wieder auftauchen, würde durch die Einfahrt auf unser Haus zulaufen. Doch das würde nicht passieren.
„Ich habe Karten für das Footballspiel am Wochenende", versuchte ich ihn aus seiner Reserve zu locken. Früher hatte er immer jedes meiner Spiele besucht und stundenlang vor dem Fernseher gehockt, um ja keinen wichtigen Moment zu verpassen. Auch das hatte augenblicklich sein Ende gefunden.
„Von der Mannschaft, mit der du nicht mehr spielen kannst?"
Ich zuckte zusammen. Warum hatte er das sagen müssen? Ich spürte bereits, wie meine Augen feucht wurden, doch diese Blöße wollte ich mir nicht geben, nicht vor ihm.
„Ja", meinte ich trocken. „Diese Mannschaft. Willst du mitkommen?"
„Ich habe etwas vor", murmelte mein Vater und nahm noch einen Schluck von seinem Bier.
„Und was?"
„Dies und das", er zuckte mit den Schultern und vermied es, in meine Richtung zu schauen. Ich wusste, dass er noch da war. Mein alter Dad mit seiner Liebe und Zuneigung für seinen Sohn. Auch Shy hatte mir das bestätigt.
Bei mir war es nicht anders, hatte sie mir gesagt, aber du musst immer daran glauben, dass tief in ihm drinnen noch der steckt, der er mal war. Und dass er nur darauf warten, zum Vorschein geholt zu werden. Es erfordert jedoch viel Geduld.
Ich glaubte daran, doch ich war mir nicht sicher, ob ich die nötige Energie besitzen würde, mich meinem Vater so lange zu stellen. Schließlich wusste er bestens, wie man mich verletzten konnte.
„Komm schon", ignorierte ich seine schwache Ausrede und ließ mich auf dem Stuhl ihm gegenüber nieder. Meine Hände fuhren über den kleinen Holztisch, während ich meine Worte ruhig aussuchte.
„Wie in alten Zeiten, du und ich, Popkorn und eine kalte Cola, wie hört sich das an?"
Mein Dad antwortete nicht. Ich konnte nicht anders, ich stöhnte laut auf und ballte die Hände zu Fäusten. „Was muss ich dir denn noch sagen, dass du mitkommst und den Alkohol endlich mal zur Seite legst, wenigstens für einen Tag? Was willst du hören? Was soll ich tun?"
Ich bemerkte an dem unruhigen hin und her rutschen des Schattens, dass ihm die Situation unangenehm war. Dann waren wir immerhin schon zwei.
„Die alten Zeiten sind vorbei Leke...", murmelte er gedankenverloren.
Ich begann, stur den Kopf zu schütteln. „Nein", widersprach ich, „eben NICHT! Sie sind nicht vorbei, sie sind immer noch da, in unseren Köpfen und wir können sie wieder aufbeleben, sie wieder lebendig machen! Dazu ist nur eine gewisse Phantasie vonnöten und ein Wille, es zu schaffen. Aber das ist ja anscheinend zu viel verlangt."
Ich schnaubte. „Generell brauch man von dir nicht viel zu verlangen, als eine Flasche Bier in der Hand halten zu können. Wenn Mom dich jetzt sehen könnte. Wenn sie sehen könnte, was du mit deinem Leben gemacht hast-"
„Es reicht jetzt!", mein Vater schrie mich an. Erschrocken zuckte ich zusammen, als sein Ton sich von einer Sekunde auf die andere änderte. „Was erlaubst du dir eigentlich?"
Doch es war bereits zu spät. Ich hatte dieses Thema angeschnitten und jetzt musste ich es auch beenden. Die Tränen liefen mir heiß die Wangen hinunter, während ich mich sammelte.
„Was ich mir erlaube? Ich bitte dich, sie dich doch an! Ein Häufchen Elend. Und es wird immer schlimmer! Ich dachte, ich lass dir Zeit, ich dachte, es wird schon wieder. Irgendwann ist der Dad wieder da, den ich so dringend gebraucht hätte. Doch du bist nicht wieder gekommen, nicht wirklich.
Nur weil du da sitzt heißt das nicht, dass es sich anfühlt, als wärst du da. Nein, es ist viel schlimmer, als wärst du zusammen mit Mom gestorben! Aber das bist du doch nicht, du bist noch am leben! Verdammt, du lebst, warum fühlt es sich dann nicht so an?"
Ich stockte, erstaunt über den Mut, diese Worte laut auszusprechen. Es fühlte sich so gut an, meinem Dad endlich die Wahrheit gesagt zu haben, doch irgendwo tat es mir auch leid. Ich hörte an seinem schnellen Atmen, dass er kurz davor stand, zu explodieren. Aber es war mir egal. Zum ersten Mal in meinem Leben war es mir egal.
„Und du denkst, du seist besser?", entfuhr es ihm auf einmal. Irritiert blickte ich auf und starrte seinen schwarzen Schemen an.
„Du denkst, du würdest besser leben als ich? Soll ich ehrlich mit dir sein? Jedes mal, wenn ich dich ansehe, sehe ich sie! Ich sehe deine Mutter, die doch so viel Ähnlichkeit mit dir hatte.
Manchmal denke ich mir, dass ist doch schön. So hast du ein Stück von ihr vor dir stehen, ein lebendiges. Doch dann sehe ich dich und denke an ihren Tod. Und das macht mich wütend. Deswegen trinke ich, verstehst du?
Ich trinke meine Wut weg, die ich auf dich habe, und auf sie, weil sie uns verlassen hat. Und die Wut auf mich, weil ich ihr nicht helfen konnte. Weil ich nicht da war, als sie starb. Jetzt weißt du es. Geht es dir jetzt besser?"
Ich konnte einfach nicht sprechen. Mein Mund war ganz trocken und kein einziger Ton entwich meinen Lippen, jetzt, da ich diese schreckliche Wahrheit kannte. Langsam schüttelte ich den Kopf.
Nein, natürlich ging es mir jetzt nicht besser. Wie sollte es auch, nachdem, was er mir gerade offenbart hatte?
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The blind Badboy
Teen FictionJeder spielt als Kind verstecken in der Dunkelheit. Jeder schließt die Augen und stellt sich vor, was wäre wenn. Doch niemand tut es für immer. Leke schon. ~Ein braunhaariger Tollpatsch, blind und ziemlich durchgeknallt, steigt ein in das Rennen um...