28. Einen Tick zu schnell

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Shys Sicht:

Da war er. Alberte mit seinen Freunden herum, als ob nichts wäre. Er wirkte so unschuldig.

Aber ich weiß jetzt, was mit dir nicht stimmt.

Du versteckst dich hinter einer Maske, die dich besser machen soll. Perfekter. Aber ich habe dich durchschaut.

Am liebsten würde ich es dir ins Gesicht sagen, aber das geht nicht. Ich habe es Brook schließlich versprochen.

Mit gerunzelter Stirn hatte ich den braunhaarigen beobachtet und dabei war mir so allerhand durch den Kopf gegangen. Die letzten Tage hatten mich beinahe aus der Bahn geworfen und jetzt hatte ich hier gesessen und war mir dabei wie ein Stalker vorgekommen.

Aber jetzt, da ich wusste, dass Leke in eine Selbsthilfegruppe ging, konnte ich einfach nicht anders. Und genau deswegen, und nur deswegen, hatte ich seiner Frage nach einem gemeinsamen Training zugestimmt.

Wie konnte ich ihm auch jetzt nur einen Wunsch verwehren, wo er mich mit seinem süßen Lächeln hoffnungsvoll und mit reuen Augen ansah, die einem Welpen Konkurrenz machen konnten?

Naja, und so war ich auf einmal in diese verflixte Situation gekommen, aus der ich mich einfach nicht mehr heraus reden konnte.

Meine Hände hielten immer noch seine Hüfte fest, während ich versuchte, langsam ein und aus zu atmen und nicht völlig durch zu drehen. Seine physische Nähe machte mich schwindelig.

Und aus irgendeinem Grund konnte ich mich einfach nicht mehr bewegen. Auch er schien den Atem angehalten zu haben.

Was machten wir hier bloß? Mit einem Kopfschütteln raffte ich mich zusammen und steckte meine feuerheißen Hände wieder in meine Taschen.

Wo sie auch hingehören!, stutzte ich mich innerlich zurecht.

„Uhm, okay, du kannst stoßen!", forderte ich ihn schnell auf und brachte mich mit zwei Schritten in Sicherheit.

Das war auch gut so, denn dieser Typ schaffte es tatsächlich, sich einen halben Meter weiter zu drehen.

Dadurch waren seine Füße natürlich völlig verdreht und er schien nahe an dem Punkt zu sein, wo er wie ein Stein zu Boden gefallen wäre. Oder eher wie ein Gleichgewichts-gestörter Idiot.

„Das war viel zu weit! Wir sind doch erst bei den Frontalstößen!", meinte ich, während Leke krampfhaft versuchte, nicht hinzufallen. Seine schwarze Brille reflektierte für einen kurzen Moment die Sonnenstrahlen, als er mit angespannter Miene zu mir schaute.

Dieses blöde Ding! Irgendwann würde ich es ihm höchstpersönlich vom Leibe reißen!

Nach langen Überlegen hatte ich für mich festgelegt, dass es einfach zu seinen persönlichen Macken gehörte, zwei schwarze Flecken im Gesicht zu haben.

Ich wollte nicht zu viel in die Sache mit der Selbsthilfegruppe hinein interpretieren, dennoch zählte ich es dazu. Und mir war noch viel mehr eingefallen.

Schließlich würde ich den Moment auf dem Dach, in dem ich dachte, Leke wolle sich von der Mauer in den Tod stürzen, nicht so schnell vergessen.

Er ist suizidgefährdet, schoss mir damals durch den Kopf als die erste und beste Lösung. Aber so einfach war das nicht.

Ich hatte mir geschworen, ihn nicht einfach nach einem einzigen Moment zu beurteilen. Das war nicht fair.

Aber im Umkehrschluss hieß das, dass ich ihn besser kennen lerne musste und das wollte ich nicht. Leke strahlte für mich immer noch etwas geheimnisvolles aus, was gleichzeitig abweisend wirkte.

Er wollte gar nicht, dass ihm jemand wie ich zu nahe kam. Umso mehr hatte es mich erstaunt, dass er doch Sport mit mir hatte machen wollen.

„Okay, probiere es noch einmal!", forderte ich ihn schnell auf, um meine Gedanken wieder auf das hier und jetzt zu lenken.

Ich drückte ihm die Kugel in die Hand und beobachtete jede seiner Bewegungen genaustens. Ich spürte, dass auch die anderen zu uns herüber sahen. Was sie sich wohl dachten?

Leke drückte sich mit aller Kraft nach vorne und dieses mal flog die Kugel sogar in den Sektor.

„Hey", rief ich leicht erstaunt und zog anerkennend eine Augenbraue hoch. „Das war gut!"

„Danke", meinte der braunhaarige, während er immer noch ins Feld blickte. Irgendetwas stimmte nicht. Sein Blick war irgendwie ... anders. Nicht mehr so selbstsicher, wie ich ihn kannte.

Und ohne es zu wollen machte ich mir mal wieder viel zu viele Gedanken über ihn.

Kopfschüttelnd lief ich an ihm vorbei um die Kugeln zu holen und spürte, wie er sich hinter mir langsam in Bewegung setzte.

„Jasper ist dein bester Freund, oder?", fragte ich auf einmal in die Stille hinein, die langsam anfing, peinlich zu werden.

„Ja", Leke schloss zu mir auf und nickte bekräftigend. Bei den Gedanken an den Wuschelkopf musste er grinsen: „Auch, wenn ich ihn manchmal am liebsten auf den Mond schießen würde."

Ich lachte auf. „Das kenne ich!"

 Dabei dachte ich nicht nur an Brook, sondern auch an meine alte beste Freundin Clara. Sie war wohl ziemlich die verrückteste Person gewesen, die ich gekannt hatte. Manchmal tat es mir weh, sie so lange nicht zu sehen.

„Es muss hart für dich gewesen sein, wegzuziehen und dich von deinem alten Leben zu verabschieden", meinte Leke auf einmal wieder ganz ernst.

Heimlich warf ich ihm einen Seitenblick zu. Sein Kiefer arbeitete, als würde er angestrengt nachdenken.

„Ja", murmelte ich plötzlich ein wenig traurig, und hob währenddessen die Kugeln auf, „das war es. Aber mit jedem Ende kommt auch ein Anfang. Und ich habe viele neue nette Leute kennen gelernt."

Und einen besonders komischen, dachte ich mir, nämlich DICH!

Ich spürte, dass er mich anstarrte, spürte seinen bohrenden Blick durch die Sonnenbrille hindurch, der mich leicht erzittern ließ.

Es fühlte sich fast so an, als könne er mir direkt in die Seele blicken. Und der Gedanke gefiel mir nicht sonderlich.

„Ähm", ich räusperte mich befangen und lief wieder zurück zum Ring.

„Kannst du bitte aus dem Gefahrenbereich gehen? Hinter die weiße Linie?", fragte ich ihn und zeigte gleichzeitig auf die Markierung.

Ein Schatten huschte über Lekes Gesicht, als er sich sofort in Bewegung setzte und GENAU auf der Linie zum stehen kam.

Also entweder er nimmt meine Worte ziemlich ernst oder er möchte mich verarschen, dachte ich mir ein wenig grimmig und schob verärgert den Kiefer vor.

Musste ich mir jetzt darüber auch noch den Kopf zerbrechen?

Seufzend wendete ich mich wieder nach vorne: „Jetzt zeige ich dir, wie das ganze mit ein bisschen mehr Schwung geht!"

Täuschte ich mich, oder sah der braunhaarige ein wenig unglücklich aus? Was hatte ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht? Das war ja schlimmer als mit einem Kleinkind!

„Alles okay?", unterbrach ich meine eigene Ausführung und studierte erneut die Züge des komischen Jungen.

„Klar, alles gut", antwortete er mir einen Tick zu schnell und zwang sich zu einem Lächeln in meine Richtung. Dabei wusste ich, dass es nicht echt war.

Genauso wenig wie seine Worte.


The blind BadboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt