81. Böses Verlangen

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Lekes Sicht:

Ich hatte mir geschworen, nie wieder aus Frust oder Trauer, aus Wut oder Verzweiflung, schlichtweg wegen irgendeiner blöden Gefühlslage heraus zu trinken.

Mein Schwur hielt nicht mehr lange an, dass spürte ich. Ich hatte es bereits in dem Moment gewusst, als Shy aus dem Kino geeilt war, mit schnellen Schritten und einem leisen Schniefen, um den Menschen ihre Tränen nicht zu zeigen.

Verlassen.

So hatte ich mich gefühlt. Sie ist weggegangen. Wegen dir. , hatte ich mir vorgeworfen, wütend auf mich selbst. Nach und nach waren die anderen dazu gekommen.

„Leke, alles in Ordnung? Wo ist Shy?", Jaspers Stimme klang alarmiert. Die Angst klebte seit dem Feuer wie ein dunkler Schatten an ihm.

„Wir haben euch schreien gehört. Ist alles in Ordnung?", ich spürte, wie Pacey mir eine Hand beruhigend auf die Schulter legte.

Brook war die besonnenste. Sie schaffte es, die ganze Situation mit einen Blick aufzunehmen. „Sie ist gegangen", stellte sie kalt fest. Ich wusste, dass sie das aus meiner erschütterten Haltung schließen konnte. Daraus, dass ich auf dem klebrigen Teppichboden saß und verloren Richtung Ausgang starrte.

„Ja", meine Stimme war ein erbärmliches Krächzen.

„Was ist passiert?", hakte Brook verwirrt nach und kniete sich vor mich hin, was ich aus dem leichten Luftzug um mein Gesicht herum schloss. Ihre Hände berührten ganz leicht meine Knie, wie eine leichte Feder strichen sie über meine Haut.

Ich zuckte mit den Schultern.

„Leke, worüber habt ihr gestritten?", bei ihrer Stimmlage musste ich an ihre Mutter denken, die Betreuerin meiner Selbsthilfegruppe. Brook klang genau wie sie.

„Ich weiß es nicht."

„Sei nicht dumm. Natürlich weißt du es."

„Ich verstehe sie nicht", meine Stimme war so verzweifelt. Seit wann hatte ich meine Gefühle bloß nicht mehr unter Kontrolle? Das musste aufhören, und zwar sofort. Brook durfte nicht dazu durchdringen, mich auszuhorchen.

„Am besten du siehst nach ihr", murmelte ich also und drehte meinen Kopf bewusst zu den anderen. „Ihr könnt ruhig den Film zu Ende sehen, ich gehe lieber nach Hause."

„Ich kann dich nach Hause begleiten!", schlug Jasper sofort zu.

„Nein", erwiderte ich, „dass schaffe ich schon alleine. Von hier aus kenne ich den Weg."

„Bist du sicher?" Diese verdammte Frage. Woher sollte man sich schon sicher sein? Was war Sicherheit? Ich hatte sie noch nie gespürt, auch nicht, als ich noch sehen konnte.

„Ja", ich nickte bestimmt und stand auf, um ihnen meine Kraft zu demonstrieren. Ich wusste, dass meinen Freunden der Gedanke nicht gefiel, doch immerhin machten sie nicht den Fehler, mir zu widersprechen. Also verschlug es mich auf die Straßen von Erie, während der kalte Nachtwind meine Gedanken durcheinander wirbelte.

Alles war still, als ich zuhause ankam. Mein Vater hatte mich im Krankenhaus besucht, es schien ihm deutlich besser zu gehen. Zumindest wünschte ich mir das so sehr, dass ich es glaubte.

Und plötzlich verspürte ich es: dieses Verlangen. Es drängte mich dazu, ganz tief unter mein Bett zu greifen, so tief, wie unsere Putzfrau, die zweimal im Monat kam, nie kommen würde. Und als meine Hand die Glasflasche endlich zu greifen bekam stahl sich ein bitteres Grinsen in mein Gesicht. Ich wusste, dass es falsch war. So falsch, aber ich konnte nichts dagegen machen.

Alles in mir drängte danach die ganzen Sorgen, den Streit, einfach alles zu vergessen. Es unwichtig zu machen. Ich lehnte mich an meine Bettkante an und nahm den ersten Schluck, welcher feurig meine Kehle hinunter rann.

Sofort fühlte ich mich besser, wenngleich das schlechte Gewissen mir das Gefühl vollkommenen Glückes nahm. Ich verspürte seine Anwesenheit wie eine lästige Fliege, die einfach nicht von meiner Seite weichen wollte.

Vielleicht brauche ich einfach eine Pause.

Ich trank einen Schluck, während die Verzweiflung mir die Flasche an die Lippen drängte.

Dein ständiges 'Wir schaffen das!'

Ein weiterer Schluck folgte. Warum tat sie mir das an? Warum rannte sie genau zu jenem Augenblick los, als ich sie am meisten brauchte? Wir mussten das doch zusammen durchstehen? Und sie fehlte mir so sehr, selbst jetzt, wo unser Streit nur wenige Stunden her war.

Du erdrückst mich.

Der Vodka war halb leer, doch ich konnte nicht mehr aufhören. Es war wie eine Sucht, eine Sucht die mir vorgaukelte, mir helfen zu wollen.

Aber das tut sie nicht!

Das ist mir egal.

Sollte es aber nicht!

Ist es aber. Genau so, wie es Shy auch egal ist.

Ich trank weiter. Es fühlte sich einfach zu gut an. Mein Körper wurde immer leichter und meine Gedanken immer langsamer.

Ich musste etwas unternehmen. Jetzt, wo ich den Mut hatte, konnte ich ihr vielleicht wieder gegenübertreten. Doch wie, wo sie so weit entfernt war? Ich musste sie anrufen.

Mit zittrigen Fingern zerrte ich mein Handy aus der Hosentasche. „Rufe Shy an", befahl ich mit ungewohnt lauter Stimme. Erschrocken riss ich die Augen auf und presste die Hand vor meinen Mund, während mir das Handy aus der Hand glitt. Vibrierend und klingelnd lag es auf meinem Teppichboden. Warum war meine Stimme so laut? Ob mein Vater dadurch wach geworden war?

Mit angehaltenem Atem zählte ich. Es klingelte; ein, zwei, drei, vier Mal. Nichts. Ich drückte auf Wiederholung. Eins, zwei, drei -

„Was willst du?"

Scheiße, was tat ich hier nur? Das sie annahm war nicht mein Plan gewesen. Was sollte ich jetzt bloß nur sagen? Und das, wo meine Stimme auch noch so laut war.

„Leke? Hallo?", Shy klang wütend, aber auch irritiert.

Ich wusste, dass sie jeden Moment auflegen würde, wenn ich nichts sagen würde.

„Shy", hauchte ich in die Dunkelheit, damit ich nicht noch einmal schreien konnte. Dennoch hallte meine Stimme unendlich laut in meinem Kopf wieder, dass alles schmerzte. Verärgert und schmerzhaft zugleich verzog ich das Gesicht. „Ahh."

„Leke, was soll das? Ist alles okay?"

„Pscht", murmelte ich nahe dem Hörer. Mittlerweile hatte ich mich auf den Boden gelegt. „Deine Stimme ist so laut." Genau so wie meine.

„Meine Stimme? Leke, jetzt sag nicht, du hast schon wieder getrunken." Sie klang so enttäuscht, ich konnte ihr einfach nicht antworten.

Doch meine Stille reichte ihr.

„Das darf doch nicht wahr sein...", hörte ich sie mehr zu sich selbst als zu mir murmeln. Klang sie gerade etwa besorgt? Das konnte nicht sein, nicht wegen mir. Nein, Shy war doch böse auf mich. Das machte keinen Sinn. Ich fing an zu kichern. Das machte wirklich keinen Sinn.

„Du machst mir Angst. Was soll das? Kannst du dich nicht einmal erwachsen benehmen?"

Angst. Da war es wieder. Dieses Wort hatte ich erst kurz zuvor aus ihrem Mund gehört. So hässlich, und so wahr. Angst vor mir.

Das sollte sie nicht haben, niemals. Immer machte ich alles falsch. Doch der Vorteil dieses Mal war: es war mir egal.

Einfach nur egal.


The blind BadboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt