epilogue - 115 days after

8.4K 761 279
                                    


Taehyung lag auf seinem Bett und starrte aus dem Fenster hinaus in den Wald. In seiner Hand lag sein neues Handy, auf dem unterschiedliche Vergleichsportale geöffnet waren, aber irgendwie konnte er nichts dagegen tun, dass sein Blick immer wieder in die Ferne schweifte und er sich fragte, was da draußen in dieser Unendlichkeit auf ihn warten könnte.

Er war nun schon seit über drei Monaten wieder zurück, aber irgendwie fühlte sich alles noch so unfassbar surreal an. Als wäre sein Leben nur ein Traum oder er in irgendeiner Blase gefangen. Es hatte gedauert bis er langsam realisiert hatte, was alles passiert war und doch was es so unfassbar schwer es wirklich zu glauben.

Er hatte jahrelang nur Lügen gelebt, wie sollte er sich da jemals wieder an die Realität gewöhnen?

Taehyung war wieder zu Hause und doch fühlte sich alles hier so verdammt fremd an. Vor allem weil er jeden einzelnen Tag in seinem Zimmer verbrachte und dieses kaum verließ. Früher war er nur zum Schlafen hier gewesen und hatte seine restliche Zeit überall verbracht - im Garten, im Wohnzimmer, im Computer-Zimmer oder sogar der Küche, aber nicht hier. Früher waren immer Menschen um ihn herum gewesen, jetzt war er immer alleine.

Aber wieso sollte er sein Zimmer auch verlassen, wenn Baekhyun draußen sowieso nicht mehr auf ihn wartete?

Seinen älteren Bruder verloren zu haben, war das schlimmste. Taehyung hatte keine richtige Familie mehr.

Das Verhältnis zu seinem Vater war irgendwie komisch, Taehyung hatte nicht mehr das Gefühl noch normal mit ihm reden zu können, seit er wusste, wer sein Vater wirklich war und was er seinem Sohn alles verschwiegen hatte. Zwar gab sich sein Vater Mühe wieder Nähe abzubauen, aber Gefühle waren noch nie Kim Seunghyuns große Stärke gewesen. Es reichte eben nicht aus, wenn er Taehyung ab und zu mal auf die Schulter klopfte oder ihn anlächelte.

Natürlich war da auch noch Daehyun, aber es war schwer seit dieser im Ausland war. Taehyung hatte wirklich gehofft, dass sein Cousin für immer bei ihm bleiben würde, aber... das hatte nie eine Chance gehabt, denn Daehyun und Taehyungs Vater... es war schwer zwischen den beiden. Noch in der Nacht von Taehyungs Rückkehr, in der er eigentlich nicht von der Seite seines Cousins weichen wollte, hatte sein Vater Daehyun ruhig in sein Büro eingeladen. Zum Reden.

Niemand wusste genau, was die zwei da besprochen hatten, man hatte von draußen nichts außer gedämpfter Stimmen verstanden. Anscheinend hatten sie sich ausgeredet und Kim Seunghyun hatte seinem Neffen erlaubt zu bleiben und zurück in seine Organisation einzutreten, als Dank dafür dass er Taehyung gerettet hatte.

Natürlich hatte Daehyun diesem zugestimmt, denn auch wenn Seunghyun damals seinen Vater umgebracht hatte, war Daehyun nun auf ihn angewiesen. Denn niemand außer dem Kopf der Kim Familie konnte Daehyun Schutz vor Jeon Jungkook gewähren.

Trotzdem war da so viel zwischen den beiden unausgesprochen, dass sie sich kaum länger als zehn Minuten im selben Raum aufhalten konnten und so hatte Taehyungs Vater Daehyun schließlich ins Ausland geschickt, weil "dort dringend Daehyuns Hilfe nötig wurde und er dort sowieso sicher sei." Im Endeffekt wollte Kim Seunghyun ihn einfach los werden.

Also tat Taehyung den ganzen Tag nichts als alleine in seinem Zimmer zu hocken und mit seinem neuen Smartphone zu spielen... oder wie jeden Tag stundenlang Shows im Fernsehen zu schauen. Es war stumpfsinnig, aber meistens bekam Taehyung gar nicht richtig mit, was er sich ansah, denn es gab zu viele Dämonen, die ihn ständig heimsuchen. Erinnerungen, an das, was ihm geschehen war...

Der Verrat und Tod seiner Mutter, die Zeit in der Klinik, all die Lügen, die ihm danach jahrelang erzählt worden waren, der Tod seines Bruders und vor allem seine Entführung...

Jeon Jungkook ließ ihm einfach keine Ruhe, er musste dauernd an ihn und alles, was passiert war, denken.

Das schlimmst an der ganzen Sache war, dass Taehyung immer wieder, wenn er mitten in der Nacht oder morgens aufwachte, einen Moment lang, bevor er die Augen öffnete, dachte er wäre noch bei Jungkook... Dass sie kuschelten, der Ältere ihn füttern und gleich "Puppy" nennen würde.

Und sobald Taehyung realisierte, dass er in seinem richtigen zu Hause war, begann er bitterlich zu weinen. Und zwar nicht weil er sich wünschte noch bei Jungkook zu sein, sondern weil jedes Mal sein Herz ein bisschen mehr brach, wenn ihm klar wurde, dass der Schwarzhaarige nichts getan hatte als ihn auszunutzen. Jungkook hatte ihn entführen lassen und dann missbraucht. Es war nie mehr als das gewesen, da waren keine echten Gefühle.

Taehyung fühlte sich so verdammt fremd in seinem ganzen Leben, seinem Körper, aber vor allem an diesem Ort. Er war einsam, irgendwie ständig traurig und hatte nichts zu tun. Zwar hatte sein Vater angeboten wieder seinen Privatlehrer kommen zu lassen oder Taehyung wieder zum Gesangsunterricht, aber... Taehyung hatte keine Lust. Nicht in diesem merkwürdigen, fremden Leben, in dem er sich gerade befand. Er wollte nichts tun als stundenlang herum zu liegen.

Er hatte nun über drei Monate vor sich hin vegetiert und an diesem Nachmittag, nachdem er immer wieder stundenlang in den Wald gestarrt und dann sein Handy angeworfen hatte, traf er eine Entscheidung. Vielleicht war es das erste Mal in seinem ganzen Leben, dass er dies selbst tat und nicht andere Menschen über ihn bestimmten.

Der Junge entsperrte sein Smartphone, das nach einer Weile von alleine auf Standby gesprungen war, und drückte auf die einzige Nummer, mit der er wirklich Kontakt hatte.

Es dauerte ein bisschen, bis am anderen Ende abgehoben wurde, dann ertönte ein Räuspern und schließlich ein neutrales "Ja?"

Taehyungs Herz klopfte wie wild, aber er wusste, dass er das tun würde... Er musste es durchziehen und da schwang nicht einmal das kleinste bisschen Unsicherheit in seiner Stimme mit, als er schließlich antwortete:

"Hyung... es ist mir egal, was mein Vater dazu sagt. Ich komme zu dir... Ich werde zu dir nach Thailand ziehen, den Flug hab ich schon gebucht... Ich will einfach nur weg von hier und zwar für immer!" 

Die Stille am anderen Ende der Leitung machte Taehyung beinahe verrückt und er biss sich fest auf die Unterlippe, bis er endlich eine Antwort erhielt.

"Okay, kleiner Cousin."


______

𝙴 𝙽 𝙳 𝙴

stockholm syndrome

stockholm syndrome • taekookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt