#175 Wo ist der Sinn?

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Estelle 

Estelle rannte kopflos durch ihr Zimmer. Das Ziel war zu packen, doch dem war sie, seit sie vor einer Viertelstunde den Raum betreten hatte, nicht näher gekommen. Sie war durch den Wind. Sie wusste nicht mal, wo sie anfangen sollte, was sie denken sollte und auch nicht, was jetzt passieren sollte. All die diese Gedanken in ihrem Kopf wollte sie gar nicht zulassen. Sich mit diesen auseinander zu setzen war zu schmerzhaft.

Sie wusste nur, dass sie zurück musste und das dingend. Ihr Volk brauchte sie doch jetzt. Sie musste doch irgendwas tun können. Irgendwas.

Die Nachricht war ein Schock. Sie hatte nicht bis zum Schluss zuhören können, was die Bürgermeisterin von Quinnzel alles erzählt hatte. Sie war eigentlich eh nur am Rumkeifen gewesen, weil so viele Butterflys nach Quinnzel, Onica und Rosstarn geflohen waren und die Landarestädte jetzt vollgestopft waren mit Schmetterlingen, die 'ja alle kein Benehmen hatten'. 

Estelle seufzte. Wo nur war ihre Mutter, wenn nicht in Glosstone? Glosstone war die Stadt aus Eis und die größte der Butterflyfestungen. Eine von drein. Das Königreich war nicht besonders groß, aber hatte eine starke Wirtschaft und war ein wichtiger Handelsstützpunkt für alle umliegenden Königreiche. Dass in Glosstone angeblich niemand mehr war, war eine Katastrophe. 

Wie sollten sie das nur alles wieder in den Griff bekommen?

Als es an der Tür klopfte, schreckte die junge Prinzessin regelrecht zusammen. Sie war das gar nicht mehr gewohnt, weil es in Curare üblich war, einfach in die Zimmer reinzurennen. Die waren halt noch nie in einer Butterflyfestung gewesen und hatten so Dinge zu sehen bekommen, die die lieber nicht gesehen hätten. Ein Landare in Glosstone würde sich ganz schnell angewöhnen zu klopfen. 

Wer auch immer da war, klopfte nur aus milder Rücksichtnahme. Doch das war wirklich nur milde, denn lange warten wollte der Klopfende anscheinend dennoch nicht. Es klopfte gleich noch mal, das nächste was sie vernahm war ein Räuspern, dann Yoongis heisere Stimme. "Estelle?", fragte er und er wartete nicht länger, sondern öffnete die Tür.

Seine Augen wanderten kurz durch den Raum und er verschaffte sich einen Überblick über das Chaos, das bereits geschaffen hatte. "Was machst du da?", fragte er und Estelle drehte sich zu ihm um. "Ich packe", sagte sie unglücklich, "ich muss nach Hause. Ich muss meine Mutter finden, sie muss doch irgendwo sein, ich muss helfen...."

"Du weißt, dass das null Sinn ergibt?", unterbrach der König sie und die junge Frau schluckte nur leer. "Wie stellst du dir das vor? Du läufst mal eben von Quinn nach Glosstone?" Zunächst schwieg sie. Er sollte ihr nicht so schwere Fragen stellen. Sie hatte doch auch keine Ahnung. Dann schüttelte sie den Kopf. "Was weiß denn ich!!", brauste sie auf und verfluchte ihr unstetiges Temperament. Sie hatte sich eigentlich abgewöhnt, irgendwas an Yoongi auszulassen, sie waren inzwischen schon sowas wie Freunde. 

Doch Estelle unterstand massiven Stress. Somit fiel es ihr schwerer, sich zu zügeln. All die Ängste, die sie beschlichen machten sie halb irre. Was, wenn ihrer Mutter was passiert war? Was, wenn sie sie nie wieder sehen würde? "Darüber mache ich mir dann Gedanken", sagte sie schon ruhiger mit einem entschuldigenden Blick. "Ich muss zu ihnen, Yoongi, sie brauchen mich doch jetzt!"

"Richtig", stimmte er zu, "sie brauchen dich. Lebendig. Das bist du nicht mehr lange, wenn du kopflos in ein gefallenes Gebiet rennst!" Auch er schien aufgebrachter als sonst. Mit großen Augen sah sie ihn an. Er sollte nicht von einem gefallenen Gebiet sprechen! Man musste doch was tun können. "Aber meine Mutter ist da irgendwo!" Tränen stiegen ihr in sie Augen, auch wenn sie versuchte das zu vermeiden, "meine Schwestern. Meine ganze Familie!" Sie versuchte es mit tief durchatmen. "Ich gehe", entschied sie und klang dabei fester, als sie sich fühlte.

Yoongi schien die Geduld zu verlieren. Er zog die Augenbrauen zusammen und schnaubte leise. "Deine Familie wirst du so nicht finden, Estelle! Die können sonst wo sein. Laut Taes Oma ist ganz Glosstone leer. Es wimmelt nur so von Wraghs in den Straßen. Ein Frostbiter hat die südliche Außenmauer geschmolzen und sie nach drinnen gelassen", er rieb sich die Stirn, dann sah er sie fest an. "So ein Viech hat eines der Rhinos unten um Sumpf getötet, das ist doch merkwürdig. Das muss alles erst geklärt werden, Estelle."

Das ergab alles keinen sinn. Wraghs waren hässliche Scheißviecher. Leider intelligent und sie jagten in Rudeln, aber kein Rudel wäre groß genug, um es mir den Wachen von Glosstone aufzunehmen und weiterhin, warum sollten sie einem Frostbiter folgen?? Es war nicht so, als würden Viecher untereinander Allianzen knüpfen, um Butterfyls fressen zu können. Sie interessierten sich eigentlich einen Scheiß für Glosstone. Wraghs nicht wirklich, auch wenn sie ab und zu versuchten über die Mauer zu kommen. Sie waren gefährlich und feindlich gesinnt, aber meist standen dann doch einfachere Beuten auf ihrer Speisekarte... Frostbiter hingegen schon gar nicht. Nie waren sie von Frostbitern angegriffen worden.

"Aber", setzte die Prinzessin an, doch Yoongi sah sie nur dunkel an und machte einen Schritt auf sie zu.

"Du. Kannst. Da. Nicht. Hin."

"Aber... Aber..." Estelle rang nach Luft, dann brach alles aus ihr raus, was ihr wirr durch den Kopf ging und das bedeutete, dass es genauso raus kam wie es ihr durch den Kopf schoss.

In ihrer Sprache.

"Jemand muss das Marrien-Protokoll starten! Das können nur meine Mutter und ich!! Die Weradhars müssen los, damit sie die Wraghs auffressen und vertreiben!! Und was wollen die uns weis machen?! Ein Fostbiter allein kommt niemals durch die Südmauer, die ist fünfundvierzig Meter dick!! Das sind fünfundvierzig Meter verdichtetes Eis, da kommt kein scheiß Frostbiter durch! Wir brauchen die Schmelzer, um die Stadt wieder abzuriegeln und den Innendienst und ich muss wissen, wer noch da ist, ich ertrage nicht, dass ich nichts weiß. Glosstone kann nicht einfach leer sein! Da leben 750.000 Butterflys! Glosstone ist nicht kaputt wegen ein paar Wraghs, wie viele sollen das sein? 10000? Das macht doch keinen Sinn!!"

Yoongi fing die Prinzessin, die angefangen hatte auf und ab zu gehen, erst  mal ein und hielt sie an den Schultern fest. "Hey, hey, hey", brummte er und ließ nicht zu, dass sie sich wieder frei zappelte, "stop. So gut spreche ich eure Sprache nicht, also langsam." Er schwieg kurz, dann legte er die Hand flüchtig an ihre Wange. "Atmen", wies er sie an und ließ sie auch gleich wieder los. "Estelle. Das Protokoll läuft schon, also ist deine Mutter sicher irgendwo. Ich schicke ein paar Warrior mehr nach Quinn, damit ein Aufklärungstrupp nach Glosstone kann, okay? Wir kriegen raus, was da läuft, aber du. bleibst. hier."

Aber wo war ihre Mutter dann, warum hatte sie sich nicht selbst gemeldet? Warum ging sie nicht an ihren blöden Landare-Pieper?? "Seit wann läuft das Protokoll?", fragte sie verspannt und Angst stand in ihren Augen. Noch immer wusste sie nicht, was sie tun sollte. Sie hatte sich schon seit langem nicht mehr so allein gefühlt und schon gar nicht so überfordert. Die Odyssee nach Vicarli war dagegen ein Spaziergang gewesen. Sie war so hilflos.

Dabei war es nicht mal so, als gäbe es keine Maßnahmen für einen solchen Fall, doch all die Theorie konnte einen nicht auf die Gefühlsausbrüche, die Angst und den Stress vorbereiten... oh und all die Maßnahmen sahen nicht vor, dass sie außer Landes war. Doch das war sie nun mal. Genau wegen sowas.

Ihre Mutter hatte sie nicht grundlos in Sicherheit gebracht.

Curare - Teil IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt