# 240 Warnung

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Jin

Wenn jemand verstand, wie es Lilly ging, dann war es wohl Jin. Es lag wohl in der Natur, der Counterpart Sache sich schon fast blind zu verstehen. Also hatte Jin ein offenes Ohr gehabt, als Lilly zu ihm kam und meinte sie hätten die Lösung gefunden, aber sie wisse nicht, ob sie so wirklich glücklich damit war. Jin verstand sie. Sie hatten trotz aller Widrigkeiten etwas über für das Schattenwesen. 

Also was tun?

Der Entschluss Abraxas zu warnen war schnell gefasst und da Jin eher nach unten kommen würde, als Lilly, erklärte er sich bereit dies zu übernehmen. Mit dem Abendessen bewaffnet, ließ sich Jin zu Abraxas durchschleusen. "Hey, Abra, bist du wach?", rief er und stellte das Essen in den dafür vorgesehenen Schlitz. "Komm, du musst was essen. Und zuhören, ganz dringend." Hatte Namjoons Körper so eben noch auf der Pritsche gelegen, regte er sich nun. 

"Ich muss einen Scheiß", kam es murmelnd aus der Ecke. Wie immer, wenn Abraxas sprach, klang Namjoons Stimme seltsam rau. "Doch, glaub mir, heute ist es wichtig", ließ Jin ihn wissen und Abraxas nahm sich mit einem misstrauischen Blick das Essen aus der Ablage. "Wieso, was ist los?", wollte er wissen. Er gab sich betont desinteressiert, doch Jin konnte die Anspannung in seinem Körper erkennen. Er ahnte es. Sie hatten die Injektion aus den Aufzeichnungen eines Odiomare, also wusste auch Abraxas, dass es möglich war einen Odiomare zu töten und wie. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie auch dahinterkommen würden. 

"Kann Namjoon mich auch gerade hören?", fragte Jin und lehnte sich mit der Schulter gegen die Scheibe. "Ich weiß ehrlich gesagt gerade gar nicht bei welchen von euch beiden die Info besser aufgehoben ist", meinte er und musterte Abraxas aufmerksam. Abraxas schnaubte nur. "Spuck es einfach aus", forderte er unfreundlich. Jin nickte unentschlossen und seufzte. Es weiter hinauszuzögern brachte auch nichts. 

"Lilly hat die Aufzeichnungen eines deiner lieben Kollegen gefunden", sagte er. Er stieß sich von der Scheibe ab und ging sich durch die Haare. "Darin war auch ein Rezept", fügte er hinzu und handelte sich damit einen schmalen Blick von seinem Gegenüber ein. "Du lügst", behauptete Abraxas gekonnt. Jin wog den Kopf. "Wenn du das glauben willst. Aber ein Team ist gerade dabei Mellissan zu bergen. Zum Beispiel." Abraxas bemüht sich um ein Pokerface. "Schön. Das ist gut für die Haut", meinte er seelenruhig. Jin seufzte wieder. "Abraxas, ich meine es ernst, sie arbeiten an dieser Injektion, die ihr Avanilion benutzt um euch gegenseitig loszuwerden", beteuerte er. 

"Wieso erzählst du mir das?", wollte der Odiomare misstrauisch wissen. "Brauchst eine  Bestätigung für eure Vermutung? Willst du mich verhöhnen?" 

Jin schüttelte den Kopf. "Nein und nein, Abraxas", erwiderte er, "die Bestätigung haben wir schon längst, denn die Auszeichnungen sind eindeutig und wenn ich dich verhöhnen würde, dann würde mein Gesicht ganz anders aussehen, du Trottel." Jin deutete an seinem Gesicht mit den Händen von oben nach unten. "Das ist Besorgnis. Du musst dich mit Namjoon einigen. Oder du stirbst." Jin steckte so viel Dringlichkeit in seine Worte, wie er konnte, doch er hatte keine Ahnung, ob das reichen würde Abraxas davon zu überzeugen, dass er auf verloren Posten stand. 

"Was juckt es dich?", schnappte der Odiomare derweil ein. "Was wollt ihr überhaupt von mir?" Er wurde wieder lauter, doch es war nicht wirklich zornig, eher ein Ausdruck von erneuter Überforderung. "Du, Lilly, Namjoon?! Wieso steckt ihr irgendwelche Hoffnungen in mich?!" Jin musterte ihn wieder einen Augenblick. Das war wohl eine berechtigte Frage. Abraxas verwarf die Arme und sah ihn fast schon genervt an. Nein, wie konnten sie es wagen ihn irgendwie leiden zu können, was? "Es gibt keinen vernünftigen Grund!", herrschte Abraxas weiter. "Ihr seid alle besser dran, wenn ich tot bin! Ich habe Jimin getötet – freundliche Erinnerung daran. Dass der Bastard wieder da steht, sei mal völlig dahin gestellt."

Er regte sich richtig auf und Jin ließ ihn erst einmal machen. Offensichtlich brauchte Abraxas einen Moment. "Das.macht.keinen.Sinn!!", echauffierte er sich weiter und Jin nickte unbeeindruckt. "Ja, das kann sein", gab er zu, "aber das machen soziale Bindungen sowieso ziemlich oft nicht." Jin musterte Abraxas und zuckte mit den Schultern. 

"Ich sage nicht, dass du nicht einer Menge Leuten an die Karre gepisst hast und die juckt es wahrscheinlich recht wenig, ob du lebst oder stirbst", gab er ehrlich an. Er stieß die Luft aus seinen Lungen aus und zuckte wieder mit den Schultern. "Aber Namjoon hat in dir was gesehen und Lilly vertraut auf sein Urteil und manchmal braucht es nicht mehr als das."

Manchmal startete es eben mit nur einer Person, die mehr in einem sah, als die Oberfläche hergab. Manchmal brauchte es auch nur die eine Person, um einen neuen Weg einzuschlagen und alles zu ändern, was man bisher hatte. Und Abraxas sollte Jin nicht erzählen, dass er so weiter machen wollte, wie die letzten 300 Jahre, denn dann wäre Namjoon tot und er nicht auf dem Weg neue Emotionen zu lernen. 

"Ich bin auf der Seite der beiden. Also irgendwie wohl auch auf deiner. Also warne ich dich", erklärte Jin. Er bedachte Abraxas mit einem unbestimmten Blick. "Du hast gerade erst angefangen zu leben und sollst schon sterben. Das wäre irgendwie tragisch, meinst du nicht auch?" Abraxas schnaubte abfällig. "Was wenn ich gar keine Chance will? Was wenn ich die Nase voll habe von all dieser Scheiße? Vielleicht will ich sterben?!", stellte er infrage und Jin seufzte wieder. Das wäre wirklich tragisch, aber keine Sache, die er jetzt beeinflussen konnte, zumal er nicht das Gefühl hatte, dass dies wirklich der Fall war. Abraxas mochte überfordert und verzweifelt sein, aber nicht resigniert. 

"Dann mach so weiter",  erwiderte Jin nahezu neutral, "aber ich fände das sehr schade. Du kannst mehr sein als das. Du hast verdient mehr zu sein als das. So ein Leben als Odiomare oder Avanilion oder wie auch immer man es nennen mag, ist eine reine Qual und du bist vielleicht der einzige von euch, der einen Ausweg gefunden und sich von den Ketten des Odiomare-Daseins befreit hat." Jin presste die Lippen einen Moment zusammen und ließ sich das durch den Kopf gehen, bevor er wieder Abraxas Blick suchte. "Wenn du es nur zulässt, kann Namjoon seine schützende Hand über dich halten." 

Damit trat Jin von der Zelle zurück. Abraxas hatte das Essen noch nicht angefasst, aber Jin hatte auch keine Zeit mehr darauf zu warten, dass er fertig mit Essen wäre, um das Geschirr gleich wieder mit hochzunehmen. Er würde später Lilly schicken, das Zeug wieder abzuholen, vielleicht erreichte sie ja mehr als er. 

"Ich hoffe Namjoon hat das gehört und bringt dich zur Vernunft. Du bist gewarnt", schloss Jin und machte sich auf den weg nach oben. 

"Denk darüber nach. Bitte."

Curare - Teil IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt