Ich begab mich auf direkten Weg ins Badezimmer.
Ein Blick in den Spiegel verriet mir, dass ich aussah, wie eine Leiche. Anscheinend hatte ich eine Menge abgenommen, denn meine Augenhöhlen waren tiefer als das letzte mal, als ich in den Spiegel geschaut hatte und meine Wangenknochen stachen hervor. Meine Wangen waren eingefallen und mein Hals schien zu dünn, als das er meinen Kopf tragen könnte, außerdem war ich extrem verdreckt. Ich sah meine Hautfarbe schon kaum noch und es klebte getrocknetes Blut an meiner Stirn.
Ich zog mich aus und startete das warme Wasser in der Dusche und da fiel mir auf, dass auch meine anderen Knochen alle hervorstachen. Zugegebenermaßen hatte ich die letzte Zeit nur einmal am Tag eine Suppe bekommen und ich wusste nicht mal, wie lange ich denn weg war.
Ich hatte so viele Fragen, aber da es so schien, als wäre keiner da der mir diese beantworten könnte, blieb mir keine andere Wahl als vorerst wieder in meinen früheren Alltag einzusteigen... Ich würde die Fragen von den anderen beantworten müssen, aber einige Details weglassen müssen, sonst würden mich alle für psychisch labil erklären, und dann so weiter leben, als wäre niemals etwas passiert. Nur mit mehr Einschränkungen meiner Eltern seits.
Seufzend duschte ich mich und bereitete mich mental auf das Folgende vor.______
Es waren nun einige Tage vergangen seitdem ich wieder zu Hause angekommen war und das Benehmen meiner Eltern hatte sich nur verschlimmert. Sie hatten mich bis heute nicht einmal in die Schule gelassen, aber nun war eine weitere Woche vergangen und ich hatte erfahren, dass ich fast einen Monat gefehlt hatte, aber meine Eltern das Suchen und Hoffen nicht aufgeben wollten, beziehungsweise konnten. Nicht noch einmal.
Ich hatte einen Monat Schulstoff verpasst und musste diesen nun aufholen, aber dafür würde ich wohl eine Nachhilfe oder so bekommen.
Es war nun ein Montagmorgen und ich musste mich für meinen Schultag fertig machen. Es fühlte sich merkwürdig an so weiter zu machen, wie zuvor, aber mir blieb wohl keine Wahl. Ich hatte keinem von den Wölfen erzählt, nur davon, dass ich irgendwo festgehalten worden war, nachdem ich aus dem Haus geklettert war. Ich hatte erzählt, dass meine Augen verbunden waren und ich nicht wusste, wer es war. Und ich hatte erzählt, dass ich mich verletzt hatte, damit meine Eltern nicht dachten, ich könne mich nicht wehren. Ich wollte sicher gehen, dass es jedem bewusst war, dass die Entführung nur aufgrund meines schlechten physischen Zustandes passieren konnte. Aber das änderte nun nichts mehr, im Gegenteil es wurde so oder so schlimmer.
Ich stand also vor der Badezimmertür und wusste nicht so Recht was ich tun sollte. Im letzten Monat war mir nichts wirklich schlimmes passiert und ich hatte sogar teilweise nicht einmal Angst, aber dennoch war es ein traumatisches Erlebnis. Ich fragte mich nun täglich, ob es hätte schlimmer ausgehen können. Ob ich tiefere Verletzungen hätte davontragen können. Ob ich für irgendwelche zwielichtigen Zwecke hätte benutzt werden können. Es ging mir nicht aus dem Kopf und solangsam fragte ich mich, ob es überhaupt Sinn machte sich täglich weiter fertig zu machen, wenn ich schon längst tot hätte sein können.
Letztendlich blieb mir wohl keine Wahl, ich musste so weiter machen, wie zuvor. Ich musste mich wieder einleben. Mensch, ich musste mich zusammenreißen, mir war doch nichts passiert! Mir ging es gut! Alles war in bester Ordnung, mein einziges Problem waren wieder die Streitereien mit meinen Eltern.
Versuchte ich mir einzureden, um mich mit ruhigem Gewissen fertig zu machen, aber in Wirklichkeit schwirrten mir beim Betreten des Bads, beim Duschen, beim Umziehen während des Zähneputzens und sogar während des Frühstücks Fragen durch den Kopf, die ich alleine niemals beantworten könnte.
Das waren keine Fragen, wie wenn man das Ende eines Filmes verpasst und sich einige Stunden darüber ärgert, wie er wohl ausgegangen sein könnte. Es waren Fragen die in erster Linie mein Leben betrafen. Es ging hier, um meinen Bruder und darum, ob ich mir diese paranormalen Erlebnisse nur einbildete. Weil, wenn dies so war, müsste ich definitiv schnellstmöglich einen Psychiater zu Rate ziehen.
"Ich fahr dich", sagte mein Vater und zum ersten Mal in diesem Jahr hatte ich nichts einzuwenden und stritt mich nicht darum mit meinen Freunden den Weg zu Fuß antreten zu dürfen. Es wäre zwecklos und ich wusste nicht einmal, ob ich es wollte.
Zu Fuß gehen zu dürfen war für mich immer ein Privileg, dass mir meistens vorenthalten wurde, aber an guten Tagen konnte ich meine "Wächter" überreden. Was für andere eine lästige Verzögerung war, die 30 Minuten Fußweg, war für mich ein Gefühl von Freiheit. So traurig es auch klingen mochte, aber nicht mal in meinem kleinen Dorf wurde ich wirklich alleine raus gelassen.
Ich saß also im Auto, und starrte lustlos aus dem Fenster, meine Kopfhörer eingestöpselt, die Fensterscheibe unseres alten Jeeps halb geöffnet, als ich einen Rotschopf am Fenster vorbeigleiten sah. Mein Blick folgte ihm natürlich und blieb dann auf seinem Gesicht hängen, das ich aus dieser Entfernung nur schlecht erkennen konnte, bis wir um die nächste Ecke bogen und er aus meinem Sichtfeld verschwand.
Gefärbte Haare waren bei uns auf dem Dorf, wo jeder jeden kannte und jeder über jeden lästerte eine Seltenheit, da fiel so etwas direkt auf, vor allem eine solche auffällige Farbe. Er musste also entweder ein verrückter Teenager in seiner rebellierenden Phase sein oder er war neu hier, sonst hätten wir bestimmt schon längst davon gehört.
Naja, okey, ich hatte einen Monat Klatsch und Tratsch verpasst, aber ich war mir sicher in Zukunft mehr von diesem Sonderfall zu hören und irgendein Gefühl in mir drin sagte mir, dass ein Wiedersehen mit ihm gar nicht mal so lange dauern würde.
Aber in meinem Leben gab es momentan wichtigeres.
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Ich möchte mich übrigens bei allen, wer auch immer das hier liest bedanken. Hatte nicht damit gerechnet, dass meine ff "berühmt" werden würde 😅♡
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𝐖𝐎𝐋𝐅.
FanfictionScheiße, ich saß in der Falle. Für den Wolf war das anscheinend optimal, denn er trat aus seinem Mantel aus tiefschwarzen Schatten und näherte sich mir so sehr, dass mir das Mondlicht erlaubte ihn genauer zu betrachten. Sein Fell schimmerte in einem...