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Es war nun eine Woche her, dass die Schule wieder für mich angefangen hatte. Der letzte Monat kam mir inzwischen so surreal vor, wie ein Traum. War ich wirklich festgehalten worden? Oder war es Einbildung? Aber da waren diese Zeichen tagtäglich die mir zeigten, dass das alles wirklich passiert war.

Die komische Narbe an meinem rechten Oberarm, die ich letztens beim Duschen bemerkt hatte. Meine abgemagerten Gelenke und die Knochen die hervorstachen. Die Tatsache, dass ich in der Schule einige Themen nachholen musste und das Verhalten meiner Eltern. Niemand sprach mehr darüber, aber es stand präsent im Raum, wie eine tödliche Krankheit von der jeder wusste, aber niemand sprach.

Ich wusste nicht mehr, ob und was ich über diese Situationen denken, beziehungsweise fühlen sollte. Ich hatte mir seit Anfang meines Aufenthaltes dort eingeredet es sei halb so wild. Immerhin war nichts tragisches passiert.

Aber ich wurde immer schreckhafter. Jedes mal, wenn sich mir jemand näherte war ich auf höchster Alarmbereitschaft und wollte Abstand zu der Person gewinnen. Das gestaltete sich manchmal sehr schwierig, wie wenn ich mich zum Beispiel morgens durch eine Menge an Schülern drängeln musste. Aber schlimmer war es, wenn ich mit jemandem alleine war. Ich konnte der Person nicht einmal in die Augen schauen und hatte ein sehr unangenehmes Gefühl das mich aufzufressen drohte.

Solangsam hatte ich die Befürchtung, dass mein Unterbewusstsein dieses Erlebnis nicht wieder so schnell ungeschehen machen konnte, wie ich es gerne hätte. Oder wie ich es bewusst tat. Offensichtlich hatten sie mir nichts Böses getan, also kam ich mir ziemlich feige dabei vor, und deswegen versuchte ich diese kleinen Panikattacken, die ich erlitt zu überspielen. Es klappte einigermaßen und es würde schon mit der Zeit wieder verschwinden. Wahrscheinlich war das Geschehene einfach zu frisch in meinem Gehirn eingraviert.

Jedenfalls stand ich grade vor unserem Schultor und wartete ab, dass die Schülerflutwelle die sich durchquetschte abflaute, sodass ich ungehindert das Tor passieren konnte, ohne direkten Körperkontakt zu jemanden haben zu müssen. Während ich also mit einigen Metern Abstand da stand, beobachtete ich unseren großen Baum der mich vom Schulhof aus begrüßte. Als würde er mich zu sich locken wollen. Zu sich und den anderen Bäumen.

Ich hatte plötzlich das dringende Bedürfnis meine Schultasche abzustellen und einfach durch die Bäume durchzulaufen. Mich zwischen ihnen im Kreis zu drehen bis mir schwindelig wurde und dann ins Laub zu fallen. Ich hatte das Bedürfnis nach Freiheit und es war so stark, wie noch nie zuvor in meinem Leben. Stärker, als an Tagen an denen man zu Hause festsitzt und mit großen Augen aus dem Fenster schaut und die Nachbarskinder beobachtet die draußen Spaß haben, stärker als an Tagen an denen man draußen den Schnee sieht und rauslaufen möchte, stärker als an warmen Sommertagen an denen man seine Sandalen schnappen möchte und mit seinen Freunden über den warmen Asphalt spazieren will. Nein, so stark, als wäre es ein essenzieller Bestandteil meines Lebens und meiner Existenz. Ich wollte hier weg.

Ich wollte so sehr hier weg, dass ich kurz rot sah. Mich machte diese Kleinstadt hier wütend. Mich machte alles wütend was nicht natürlich war und in mein Blickfeld geriet. Mich machten die Autos wütend, die Schüler ihn ihren künstlichen Erscheinungen und sogar ich selbst. Mein Kopf tat weh. Was war das? So eine starke Wut auf nichts? Ich hielt es nicht aus und ich wusste nicht einmal woher diese Wut plötzlich kam. Auf einmal nahm ich meine Tasche runter und schleuderte sie in die Schülermenge die das Tor blockierte.

In dem Moment, in dem der Stoff des Trägers den Kontakt zu meinen Fingern verlor, wurde mir bewusst, was ich da tat. Ich riss erschrocken die Augen auf und die Wut war wie verraucht. Nun musste ich beobachten wie meine harte, mit Büchern vollgestopfte Tasche mit unnormaler Geschwindigkeit die paar Meter Entfernung zu überwinden drohte und auf eine kleine 5. Klässlerin zusteuerte. Das alles spielte sich in Sekundenschnelle ab.

Ich war wie gelähmt vor Schock und konnte nicht einmal mit der Wimper zucken, um etwas dagegen zu unternehmen. Vor meinem inneren Auge sah ich schon wie sich der Aufprall schmerzhaft für das kleine Ding abspielte und alle mich böse anstarrten.

Aber bevor meine Befürchtungen eintreffen konnten, lief etwas mit übernatürlicher Geschwindigkeit in die Flugbahn meiner Tasche und fing sie ihn der Luft ab. Kurz darauf wurde sie wieder zu mir zurück geschleudert und landete aufgrund meiner außer Gefecht gesetzten Reaktionsfähigkeiten vor mir auf dem Boden. Statt böser Blicke erntete ich nun verwirrte. Ich hörte das Getuschel von dem Mädchen das fast getroffen worden war und ihrer Freundin bis hier drüben: "Was ist da passiert? Hat der etwas auf mich geworfen? So weit? Kann der so weit werfen?"

Ich richtete verschämt meinen Blick auf den Boden und vernahm nur ein: "Halt dich unter Kontrolle." Es kam von einem Jungen, und diese Stimme... Es war mein Sitznachbar. Ich schaute auf und erkannte, dass er derjenige war, der das kleine Mädchen gerettet hatte. Meine Augen weiteten sich und plötzlich wurde mir schwindelig. Ich musste hektisch Luft schnappen und hatte das Gefühl zu hyperventilieren.

Das war meine Schuld, ich hätte jemanden verletzten können. Was war in mich gefahren?

Das was eben passiert war, schien schnell die Runde gemacht zu haben denn nun starrte mich die ganze Horde Schüler von verwirrt, bis zu ängstlich, oder sogar wütend an. Sie alle wollten Abstand zu mir gewinnen und dabei bildete sich eine Schleuse zwischen den Menschen. Eine Schleuse, als wollten sie mich ungehindert durchlassen, damit ich keinem etwas tat.

Ich versuchte mich mit aller Macht zu beruhigen und machte erst vorsichtig einige Schritte darauf zu, aber als ich sah, wie sie sich an meinen Seiten immer mehr nach hinten drängten, rannte ich mit gesenktem Blick durch.

Ich versteckte mich auf den Jungsklos und blieb dort bis es zur ersten Stunde gongte. Was war das denn? Sie hatten mich angeschaut, als wäre ich ein Monster...

𝐖𝐎𝐋𝐅.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt