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Der gestrige Tag war einfach zu komisch. Erst dieser seltsame Vorfall mit Jeon, ich habe den restlichen Tag mit hochrotem Tag auf meinem Platz verbracht, bin seinen Blicken ausgewichen und habe nur gelegentlich mitbekommen wie er frech gegrinst hatte, und als ich dann nach Hause kam, haben meine Eltern mich ausgefragt, wie ich meinen 16. Geburtstag feiern wollte. Ich war total verwirrt, weil das für sie nie ein richtiges Thema war, Geburtstagsfeiern meine ich. Jedenfalls nach Baeks verschwinden nicht. Ich sagte ihnen, dass da ja noch Zeit wäre und verschwand dann einfach in meinem Zimmer.

Ich war noch nicht bereit meinen 16. Geburtstag zu planen. Immerhin war es das Alter, in dem mein großer Bruder verschwand und das letzte, das wir zusammen feierten. Um genau zu sein, ist er genau einen Tag nach seinem Geburtstag verschwunden. Das Thema war ein bisschen sensibel bei mir und nicht mal mit meinen Eltern mochte ich darüber reden, auch wenn es nun über 4 Jahre her war. Aber wenn ich überlegte, dass er jetzt eigentlich 20 werden sollte, brach es mir das Herz daran zu denken, dass sein 16. Geburtstag, der letzte war den er erleben durfte. Der letzte bevor er gnadenlos aus seiner Welt gerissen wurde.

Und jetzt war ich selber an diesem Punkt angekommen, an dem mein Bruder abgehalten wurde seine Reise fortzusetzen. Seine Reise durchs Leben. Er war viel lebensfroher als ich.

Nicht dass ich damals nicht Spaß am Leben hatte. Doch, schon, immerhin hatte ich das beste Vorbild. Mit ihm an meiner Seite konnte man nicht schlecht gelaunt sein. Aber ich war von Natur aus eher träge und nicht so abenteuerlustig. Ich hatte das Leben zwar auch immer gewertschätzt und genossen, aber eben auf meine Weise. Für mich bedeutete das, dass ein ruhiger Familienabend am Fernseher, einer der schönen Momente, die das Leben lebenswert machten, war. Immerhin war ich 11. Aber ich hatte mich dennoch viele riskantere Sachen getraut, weil mein Bruder es ebenfalls tat.

Wenn er auf eine Achterbahn ging, tat ich es auch. Wenn er ein scharfes Gericht probierte und das Gesicht verzog, schnappte ich ihm förmlich den Teller weg und aß das doppelte, um ihm zu beweisen dass ich genauso taff war, wie er. Egal, wie sehr ich mir die Speiseröhre verätzte ich blieb standhaft. Und wenn er sich spätabends aus dem Fenster in unserem Appartment in der Großstadt schlich, dann kletterte ich ihm hinterher, so sehr er auch versuchte mich davon abzuhalten.

Ich glaube meine Motivation ihm nachzueifern war der einzige Grund, warum er nie rauchte oder viel Alkohol trank. Denn so sehr wie ich ihn bewunderte, so sehr sorgte er sich um mich. Wir brauchten einander, ich ihn vielleicht sogar ein bisschen mehr.

Aber ab dem Punkt ab dem er verschwunden war, änderte sich alles für mich. Wir zogen zu meinen Großeltern auf den Bauernhof am Arsch der Welt und Sachen, wie Rausschleichen hatten sich für mich erledigt. Was sollte ich auch hier? Ich traute mich nichts mehr, immerhin war hier keiner der danach stolz auf mich oder beeindruckt wäre. Jedenfalls niemand dessen Meinung für mich so viel zählte, als dass es das Risiko wert wäre.
Und vor allem feierte ich meinen Geburtstag nicht mehr.

Meine Freunde in der Schule merkten nicht wie verkorkst ich eigentlich war, sie dachten, dass es hauptsächlich meine Art war so langweilig zu sein. Was ja auch teilweise stimmte, aber ich war inzwischen noch langweiliger und träger als vorher schon und fragte mich ständig warum sie sich mit mir abgaben.

Wie aus Reflex schnappte ich mir in meinem Bett mein Kissen mit der Musiknote und verbrachte den restlichen Tag in Gedanken auf der Matratze. Bis mir die Tränen kamen und ich entschied mich abzulenken. Meine Gitarre. Sie stand in der Ecke meines Zimmers und gehörte eigentlich früher, wie so viele meiner Sachen, meinem Bruder, aber ich hatte für ihn angefangen zu lernen, wie man sie spielte. Ich spielte einige Akkorde und sang ein Lied, dass er mir immer vorgesungen hatte. Ein Lied, dass ich immer sang, wenn es mir schlecht ging, weil es mich an meinen Bruder erinnerte und mich geborgen fühlen ließ.

"~wait for me to come home"

Und ich wartete.

Jedenfalls wurde es irgendwann Abend und ich entschied mich wieder in den Wald aufzubrechen, wie ich es Black versprochen hatte. Ich schlich mich wie beim letzten Mal raus, und auch diesmal nahm ich das Pferd zum Wald, aber anders als beim letzten Mal begrüßte mich der Wolf nicht schon bei den ersten Metern in den Wald. Auch nicht nachdem ich tiefer reingegangen war und nicht als ich einige Male leise nach ihm gerufen hatte. Nicht mal als ich mich an einen Baum gesetzt und gefühlt Stunden dort gewartet hatte.

Schlussendlich entschied ich, dass ihm etwas in die Quere gekommen sein musste, vielleicht ein feindlicher Wolf, und kehrte, ohne ihn gesehen zu haben, wieder zurück nach Hause. Die restliche Nacht zerbrach ich mir förmlich den Kopf darüber, ob er nur aufgehalten worden war, oder ob er vielleicht zu seinem Rudel zurückgekehrt war und schlief dann letztendlich ein.

Und hier war ich nun. Machte mich fertig für die Schule und überdeckte mit dem Concealer meiner Mutter meine lavendelfarbenen Augenringe. Ich sah müder aus als sonst, aber fühlte mich wenigstens nicht so müde wie letztens.

Der Rest meines Morgens verlief wie immer. Ich frühstückte Müsli und wurde nachher von meinem Vater zur Schule gefahren. Dort saß ich wie immer auf meinem Platz und legte mein Gesicht mit der Wange, ausgelaugt, auf meinen Tisch. Ich starrte Jeongguk an, der wie immer aufrecht und in bester Manier auf seinem Platz saß.

"Ach, dir scheint es nicht mehr unangenehm zu sein mich anzuschauen", stellte er fest.

"Sag mal, wie kann man immer so seriös und kalt wirken?", fragte ich im Halbschlaf.

"Und wie kann man immer so müde hier aufkreuzen, du Schwachkopf. Schlafen ist wichtig für euch Sterbliche", sagte er flüsternd leise, aber ich verstand jedes Wort.

"Was meinst du damit?"

𝐖𝐎𝐋𝐅.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt