Flucht aus der Realität

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„Was läuft denn eigentlich?", fragte ich, bevor wir aus dem Auto ausstiegen.
„Puh... Keine Ahnung. Wird schon was kommen."
Smudo grinste und ich musste meine gesamte Willenskraft aufbringen, mich nicht zu ihm zu beugen und ihn zu küssen.
„Und wie machen wir das jetzt? Wir können nicht einfach so zusammen ins Kino gehen. Nicht nach der ganzen Konferenzsache gestern. Wir stehen in der Zeitung", merkte ich an.
„Na dann... holst du das Popcorn und ich die Tickets? Und ich... ziehe mir einfach die Mütze etwas tiefer ins Gesicht", sagte Smudo und versuchte sich an einem Lächeln, aber ich merkte ihm an, dass es ihn störte, dass wir diese Geheimniskrämerei betreiben mussten.

So machten wir es dann aber, es blieb uns ja nichts anderes übrig. Ich wartete mit einer Tüte Popcorn auf Smudo, da die Schlange für die Tickets länger war als die für das Popcorn. Gemeinsam gingen wir an der Ticketkontrolle vorbei und achteten darauf, dass wir uns nicht zu nahe kamen.
Mir war schon wieder meine ganze Lockerheit flöten gegangen. Ich war genauso angespannt wie vor der Pressekonferenz, als der junge Mann im Kino mein Ticket abriss und uns sagte, in welcher Richtung unser Kinosaal lag. Was war, wenn er uns erkannte? Und wenn ja, wusste er, dass es diese Gerüchte gab, dass wir zusammen waren? Würde er das dann weitererzählen? Und wenn er es nur seiner Freundin erzählte, wer wusste schon, was das für Wellen schlagen würde?

Aber die Welt dreht sich nicht nur um Smudo und mich... Den meisten Leuten ist das wahrscheinlich schnurzpiepegal, ob das nun stimmt oder nicht. Und der Typ hier interessiert sich auch nicht dafür, wessen Tickets er da gerade abgerissen hat. Wahrscheinlich ist das ein Studentenjob und er braucht einfach nur die Kohle und für alles andere hat er gar nicht den Kopf frei.

Trotzdem war ich erleichtert, als wir es uns ganz hinten in der Ecke bequem machten, dass uns bis dorthin niemand erkannt oder angesprochen hatte. Der Saal war außerdem ziemlich leer.
„Das ist schrecklich", flüsterte Smudo, nachdem er seine und meine Jacke auf den Sitz neben sich gelegt hatte. Ich wusste genau, was er meinte.
Wir waren relativ knapp gekommen und in dem Moment, als Smudo das sagte, wurde das Licht komplett ausgeschaltet.
„Jetzt ist es dunkel. Jetzt sieht uns keiner mehr", wisperte ich zurück, auch, um mich selbst davon zu überzeugen.
Ich suchte seine Hand und verschränkte meine Finger mit seinen, als ich sie gefunden hatte. Die Werbung interessierte mich eh nicht, dafür war ich umso mehr mit meinem Nebenmann beschäftigt. Vorsichtig verschloss ich meine Lippen mit seinen. Mir fiel sogar dabei auf, dass ich angespannt war. Smudo war heute von uns beiden der, der alles viel lockerer zu sehen schien.
„Schnucki...", murmelte er ganz leise und löste sich dafür von mir, „entspann dich. Hier ist Umkreis von fünf Metern keiner und selbst wenn, erkennen die uns bei dem schwachen Licht eh nicht. Und sie müssten sich ja überhaupt erstmal umdrehen dafür."
Seine Stimme war ganz sanft und hüllte mich in eine Wolke aus Schutz und Geborgenheit. Smudo Lippen trafen meine erneut, aber nur kurz.
„Mach's dir bequem", flüsterte er und klopfte behutsam auf seinen Oberschenkel.
Wir hatten einen dieser Loveseats erwischt, bei denen die Lehne zwischen den Sitzen fehlte, wodurch eine große Sitzfläche entstand. So kam ich Smudos Vorschlag nach und legte mich schräg auf den Sitz, sodass mein Kopf auf Smudos Schoß lag. Er angelte sich die Popcorntüte und stellte sie dann vor mich, sodass wir beide reingreifen konnten. Beide schauten wir in Richtung der Leinwand und verputzten dabei das Popcorn.
Smudo strich mit seiner Hand liebevoll über meinen Rücken. Seine Berührungen taten mir gut, ich wurde dadurch von Minute zu Minute ruhiger und entspannter. Es war so schön, dass er mich spüren ließ, dass ich ihm wichtig war. Ich streckte meinen Arm ein wenig, sodass ich meine Hand an Smudos Wange legen konnte. Er schaute zu mir hinunter.
„Danke", flüsterte ich.
„Wofür?"
Der Film war längst nebensächlich geworden. Auch, wenn wir dafür Geld bezahlt hatten, konnte ich mich einfach nicht auf die Leinwand konzentrieren. Viel zu wichtig war es, dass ich Smudo zeigte, dass ich so froh war, jetzt hier mit ihm sitzen zu können. Ich musste ihn küssen, ich konnte gar nicht anders. Deshalb stützte ich mich auf und drückte mich so etwas nach oben.
„Für das hier. Für... alles."
Es war mir vollkommen egal, ob uns jemand sehen könnte, als ich seitlich auf Smudos Schoß rutschte und wir uns küssten, als würde es kein Morgen mehr geben. Ich ließ mich von Smudos Optimismus anstecken und verlor mich völlig in unserem Kuss. Die Orientierung hatte ich schon längst verloren. Alles, was ich noch wusste und was wichtig war, war, wo Smudos Lippen sich befanden und dass ich auf seinem Schoß saß, dass er seine Arme um mich geschlungen hatte, dass ich mit jeder Sekunde, die so verging, mehr an uns glaubte und daran, dass es völlig egal war, was noch passieren würde, solange wir nur einander hatten.

Völlig verklärt lösten wir uns irgendwann voneinander. Noch ein paar mal trafen sich unsere Lippen, dann setzte ich mich wieder neben Smudo – immerhin war ich nun doch kein Fliegengewicht. Er lehnte sich an meine Schulter und ließ sich von mir den Hinterkopf kraulen, während wir uns wenigstens noch das Ende des Films, dessen Titel ich mir nicht einmal gemerkt hatte, anschauten. Es war eine Komödie und der Humor war nicht zu flach. Vielleicht hätten wir uns doch etwas mehr auf den Film konzentrieren sollen, denn zumindest das Ende war gar nicht schlecht. Ich sah Smudos Lächeln aus den Augenwinkeln und wünschte mir, dass es immer so sein würde – dass wir zusammen und glücklich wären.

Unsere Blase aus purem Glück bekam Risse, als der Film zu Ende war und wir zurück in die Realität mussten. Denn diese beinhaltete, dass wir Abstand zueinander hielten. Wahrscheinlich übertrieben wir es damit sogar, aber ich konnte mich nicht mehr erinnern, wie wir miteinander umgegangen waren, bevor wir uns ineinander verliebt hatten. Im Moment kam mir alles verdächtig vor, was wahrscheinlich daran lag, dass ich wusste, dass wir der Welt etwas vorspielten. Es betrübte mich, dass ich nicht einfach Smudos Hand halten konnte wie es der Mann vor uns mit der Hand seiner Freundin tat. Ich bemerkte, dass Smudos Blick ebenfalls an den Händen der beiden klebte und wie er daraufhin murrend den Kopf schüttelte.

Wir stiegen in Smudos Auto, doch er startete den Motor nicht. Stattdessen starrte er auf den Parkplatz vor ihm. Seine Kiefer waren fest aufeinander gepresst.
„Lass uns wegfahren. Irgendwo ganz weit weg. Nur wir beide. Wo wir einfach nur wir selbst sein können, ohne immer überlegen zu müssen, ob uns jemand sieht", sagte ich leise und legte meine Hand auf seine, die das Lenkrad fest umklammerte.
Sein Blick hellte sich auf, sein Griff lockerte sich.
„Meinst du wirklich?"
„Klar. In den nächsten Wochen steht nichts wichtiges an."
Smudo lächelte. Er sah aus, als wäre er in Gedanken bereits im Urlaub.
„Und wohin?", fragte er dann.
„Irgendwo, wo es noch ein bisschen warm ist? Und wohin man nicht ganz so lange fliegt?", überlegte ich.
„Ja dann... irgendeine Insel? Zwei Wochen Gran Canaria?", schlug Smudo vor.
„Hört sich toll an."

Die Ferienwohnung buchte ich noch während der Heimfahrt.

Das Leben - Angenehm und irre kompliziertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt