75 | silence

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Ich glaube, ich hatte nicht einmal so fest geweint, als mein Bruder das zweite Mal sein Leben ließ. Vielleicht lag es auch daran, dass ich verlernt hatte, meine Gefühle zu kontrollieren, ich wusste es nicht. Ich wusste gar nichts mehr, ich konnte nicht mehr klar denken. Alles was ich noch spürte war dieser unglaubliche Schmerz.

Mein Herz zerbrach noch mehr, als Taehyung sich mit letzter Kraft umdrehte und mir schwach lächelnd die Tränen wegwischte. "Es wird alles... wieder gut", flüsterte er, bevor er wieder in sich zusammensackte und das Bewusstsein verlor. Vorsichtig aber sicher hielt ich ihn fest.

"Jimin", schluchzte ich, "ich brauche jetzt deine Hilfe." Es war sinnlos, wenn ich hier jetzt weiter weinte. Tae war schwach und kraftlos, wenn ich ihm nicht half, dann würde er es nicht schaffen. Er brauchte mich jetzt.

"Setz dich so hin, dass du gegen diesen Baum da anlehnst", wies ich ihm an. Brav tat er, was ich von ihm verlangte. "Ja genau, und jetzt mach deine Beine so auseinander, dass ich Tae dazwischen legen kann, aber du ihm genügend Halt geben kannst. Wenn er wach wird und aufstehen will oder sonst irgendetwas tut, drück ihn mit aller Kraft nach unten. Egal was er sagt oder tut, lockere auf gar keinen Fall deinen Griff."

Behutsam legte ich Taehyung zu Jimin, damit er auf ihn aufpassen konnte, während ich auf die Jagd ging. Er selbst war offensichtlich nicht in der Verfassung dazu, außerdem musste er das alles erst erlernen.

So schnell ich konnte verschwand ich in den Tiefen des Waldes. Zum Glück fand ich bereits nach kurzer Zeit ein einsames Reh, welches sich anscheinend verirrt hatte und deswegen eine leichte Beute war. Leise schwang ich mich von meinem Baum und stürzte mich auf das Tier, doch ich verletzte es nicht. Ich schleppte es lediglich zurück zu den anderen beiden und drückte es gegen den Boden, damit es nicht wegrennen konnte.

Taehyung schien wieder halb bei Bewusstsein zu sein. Zwei Minuten vielleicht noch, bis er komplett wieder da war. Das war ein gutes Zeichen, vor allem, weil er sich ziemlich friedlich verhielt. Naja eigentlich bedeutete das nur, dass er sein Schicksal akzeptierte, aber würde er noch dagegen ankämpfen, wäre er bereits tot. Deswegen war es jetzt wichtig, dass er Nahrung zu sich nahm.

"Jimin, bitte zeig mir mal seine Fangzähne." Unsicher sah er erst mich und dann Tae an. "Keine Sorge, noch kann er dich nicht ernsthaft verletzen", beruhigte ich ihn. Für ihn war es sicher auch nicht leicht, schließlich hielt er gerade seinen beinahe toten besten Freund fest. Der Arme machte heute auch viel durch.

Vorsichtig schob er seine Lippe ein wenig nach oben, damit ich einen Blick darauf werfen konnte. "Mit den Beißerchen kommt er nicht sehr weit", murmelte ich. Er befand sich noch mitten in der Verwandlung, da bildeten sich gerade erst die typischen Merkmale, Fähigkeiten und auch Schwächen.

"Und was machen wir jetzt?", fragte Jimin nervös.

"Planänderung", sagte ich und brach dem Reh das Genick, ehe ich meine Zähne in den Hals des Tieres rammte und sein Blut aus dem Körper heraussaugte. Langsam und Stück für Stück, denn ich lehnte mich über Taehyung und leerte ihm die leicht süßliche Flüssigkeit in den Mund. Das mochte sich zwar widerlich anhören, aber es gab keinen effektiveren oder schnelleren Weg, um ihn wieder auf die Beine zu bringen, als den hier. Nicht, wenn er selbst nicht dazu in der Lage war, zu trinken.

Mit jedem Schluck merkte ich, wie er immer mehr an Kraft gewann, aber auch, wie seine Menschlichkeit immer schneller verschwand. Wenn man während der Verwandlung Blut zu sich nahm, verschnellerte es den Prozess. Es tat verdammt weh, dabei zuzusehen. Am liebsten hätte ich einfach wieder geweint, aber ich musste stark bleiben.

Ich schüttelte den Kopf. Wer war ich überhaupt, dass ich jetzt daran zerbrach, während ich nicht einmal davon betroffen war? Taehyung war gerade dabei, sein Leben zu verlieren und ich heulte hier rum? Das konnte doch nicht mein Ernst sein.

Sobald ich fertig war, meinte ich zu Jimin, er solle sich auch etwas zu Essen holen, schließlich sah er ziemlich blass und kaputt aus.

"Ich kann euch zwei doch jetzt nicht alleine lassen. Was ist, wenn etwas passiert?", meinte er leicht panisch.

Taehyung setzte sich auf, sodass Jimin aufstehen konnte und lehnte sich gegen den Baum. "Ist schon gut, geh", krächzte dieser.

"Du hast den ganzen Tag lang noch nichts gegessen. Schau, knapp zehn Minuten von hier habe ich einen Imbissstand gesehen. Dann bist du in zwanzig Minuten wieder da, in denen passe ich hier auf. Also mach dir keine Sorgen, ja?", sagte ich sanft. In Wirklichkeit wollte ich einfach, dass er kurz Zeit für sich hatte, denn ich merkte, dass er seine Gefühle kaum mehr zurückhalten konnte. Es war einfach viel heute und ich nahm es ihm nicht übel, viel mehr bewunderte ich seine Stärke.

Jimin kniete sich noch einmal zu Tae und umarmte ihn, bevor er auf mich zukam und auch mich kurz drückte. "Tut mir leid", flüsterte ich in sein Ohr.

"Es ist nicht deine Schuld, du hast alles getan, was du konntest. Sei nicht so hart mit dir selbst." Es war bewundernswert, dass er mir das mit so einer Ehrlichkeit sagen konnte, wo ich doch so sehr versagt hatte.

Schnell ging er zurück zum Auto und fuhr los. Währenddessen setzte ich mich neben Taehyung. Ich wusste nicht, wie nahe ich ihm kommen durfte, jeder reagierte da nämlich anders, doch er setzte sich sofort auf meinen Schoß und kuschelte sich an mich. Er brauchte wohl meine Nähe, also hielt ich ihn fest und streichelte ihm sanft durch die Haare, so wie ich es sonst auch immer machte.

"Tut es weh?", fragte er leise.

"Was soll weh tun?"

"Du weißt schon, wenn mein Herz aufhört zu schlagen", wisperte er.

Bei der Frage zog sich alles in mir zusammen. "Nein, kein bisschen", versicherte ich ihm, woraufhin er tief ausatmete und sich an meinem Pulli festkrallte.

Dann folgte komplette Stille.

hunted || taegiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt