-fifty-nine-

3.6K 118 0
                                    

„Jedenfalls habe ich ihn dann nach Hause gefahren und dann nach dem Aussteigen..." Ich schaffe es nicht den Satz zu Ende zu sprechen und aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Mabel auf mich zu kommt und sich an die Lehne des Sessels setzt. Ihre warme Hand streift meinen Arm entlang und entlockt mir eine kleine Gänsehaut, weil es mich an die Berührungen von Liam erinnert.

„Und dann hat er mich geküsst", platze ich heraus und schließe Herzpochend die Augen.

„WAS?" Mabel stellt sich sofort aufrecht hin, als ich meine Augen wieder öffne. Ich habe mit so einer Reaktion gerechnet, aber ich fühle mich nicht schlecht oder schuldig. Es ist einfach passiert und ging nicht von mir aus. Na ja, ich habe mich nicht gewehrt, also sind wir beide schuld. Oh man, so ein Schlamassel.

„Liam hat dich geküsst? Wie? Wow, damit habe ich nicht gerechnet." Ich atme laut aus und nicke schuldbewusst.

„Ja. Er hat mich einfach an sich gezogen und seine Lippen auf meine gelegt, aber er hatte getrunken. Es hatte nichts zu Bedeuten." Den letzten Satz bringe ich nur schwer raus, da ich mir das selbst einreden muss. Es hatte nichts zu bedeuten und vermutlich erinnert er sich nicht einmal mehr daran. Es war ein kleiner Moment, unser Moment. Es war wunderschön, doch es ist vorbei.

„Ich kann es nicht fassen..." Sie läuft in ihrem Zimmer auf und ab und plötzlich springt sie beinahe auf mich und grinst mich breit an. Mein Herz lässt einen Schlag aus, da ich nicht mit diesem Sinneswechsel gerechnet habe.

„Evelyn Parker hatte gestern ihren ersten Kuss."

Sie grinst mich einfach weiter an und ich bekomme beinahe Angst vor ihr. Ich brauche einige Sekunden bis ich ihre Freude verdaut habe.

„Ja", sage ich nur.

„Wie war es? Wie hat es sich angefühlt? Wie du es dir vorgestellt hast?"

Abrupt hebe ich die Hände hoch und lege meine Stirn in Falten. Ich verstehe nicht, wieso sie sich nicht über mich aufregt. Hallo? Ich habe einen Jungen geküsst, der in einer Beziehung ist. Da kann man sich doch nicht für mich freuen, auch wenn ich es schöner fänden würde.

„Du bist nicht sauer? Enttäuscht? Oder was auch immer?", hake ich nach und sie fängt an zu lachen.

„Warum sollte ich? Ich habe mir von Anfang an gedacht, dass du ein Auge auf Liam geworfen hast. Er hatte auch immer nur Augen für dich, also überrascht es mich nicht."

Ich bewege mich kein Stück und stehe irgendwie unter Schock. Bitte was hat Mabel gerade gesagt? Sie überrascht es nicht? Ich habe mir die ganze Zeit Gedanken darüber gemacht wie ich es ihr am besten sagen kann und sie überrascht es nicht? Sie hatte sowas geahnt? Niemals können andere offen sehen, dass zwischen Liam und mir etwas mehr als Freundschaft ist.

„Das kann doch nicht dein Ernst sein", stammle ich immer noch vernebelt und erhebe mich aus dem Sessel. Ich brauche dringend Bewegung und kann nicht mehr normal rumsitzen. Vielleicht gehe ich joggen, ziehe aber Mabels Klamotten an, da ich nicht nach Hause gehen will.

„Doch. Süße, daran ist doch nichts schlimm. Was hat er denn zu dem Kuss gesagt'?" Ihr blick liegt durchgehend auf mir, auch während ich einfach die ganze Zeit in einem Kreis herumlaufe und nicht weiß, wohin ich mit meiner ganzen Energie hinsoll.

„Nichts. Er meinte nur, dass ich perfekt bin und dann habe ich ihn rein geschickt. Sein Auto parkt vor meiner Haustür und deswegen bin ich so früh zu dir gekommen. Ich möchte ihn nicht sehen."

Mabel verschränkt ihre Arme vor die Brust und sieht mich prüfend an.

„Deswegen versteckst du dich hier bei mir? Dir ist schon klar, dass du ihm früher oder später sowieso über den Weg laufen wirst?"

„Dann lieber später."

„Evelyn. Du kannst dich so lange verstecken wie du willst, trotzdem wirst du noch mit ihm darüber reden müssen. Ich meine, ihr könnt euch nicht deswegen anschweigen und so tun, als wäre nichts geschehen. Außerdem hat er eine Freundin und er muss es ihr beichten."

Ich drehe mich um hundertachtzig Grad zu ihr herum und reiße meine Augen auf.

„Was? Catrice wird mich eigenhändig umbringen! Das kann ich ihr doch nicht erzählen. Sie wird mir und Liam gleichzeitig mit einer Schaufel eine überbraten!" Verzweifelt lasse ich mich auf ihrem Bett nieder.

„So schlimm ist sie doch gar nicht." Gleich nachdem sie diesen Satz ausgesprochen hat, denkt sie darüber nach und fängt im gleichen Moment wie ich an zu lachen.

Erst nach acht Uhr abendstauche ich Zuhause auf und fahre mit meinem Auto behutsam auf den Parkplatz.Liams Auto steht nicht mehr am Straßenrand und ich atme erleichtert aus. Er war schon hier und hat seinen Wagen geholt. Ein stechender Schmerz erscheint in meiner Brustgegend, als wäre ich enttäuscht darüber ihn heute nicht mehr sehen zu können. So ein Schwachsinn ich bin mehr als erleichtert, dass ich ihm nicht über den Weg laufen muss. Zumindest heute noch nicht.

Mabel und ich haben uns einen gemütlichen Tag gemacht. Wir haben Filme geschaut, unsere Nägel lackiert und uns zu Mittag chinesisches Essen bestellt. Unter gar keinen Umständen hätte ich mitten am Tag ihr Haus verlassen. Die Gefahr ihm zu begegnen wäre zu hoch gewesen. Ich bin so ein Weichei.

Drinnen angekommen duftet es nach Bratkartoffeln und ich begebe mich sofort in die Küche.

„Da bist du ja." Mein Dad sitzt am Tisch und vor ihm steht ein leerer Teller. Mit einem vollen Glas Wasser lasse ich mich neben ihm auf einem Stuhl nieder und irgendwie macht sich ein schlechtes Gewissen in mir breit, da ich den ganzen Tag nicht Zuhause war und mich nicht bei meinem Dad gemeldet habe.

„Ich war bei Mabel. Wir haben uns einen schönen Mädels tag gemacht." Ich ringe mich zu einem Lächeln, doch er scheint sich unsicher zu sein.

„Freut mich. Dein Freund war vorhin hier und hat sein Auto abgeholt. Ich soll dich von ihm Grüßen und dir das hier geben."

Dad greift in seine Hosentasche und mein Herz lässt einige Schläge aus, bis ich einen kleinen weißen Zettel in der Hand halte. Mit zitternden Händen falte ich diesen auf und erblicke eine Handynummer. Darunter steht ein kleiner Text in Liams Handschrift und ich werde immer aufgeregter.

Danke wegen letzter Nacht. Wir müssen reden, ruf mich an.

-Liam

Mit einem trockenen Mund falte ich den kleinen Zettel wieder zusammen und stecke ihn ein.

„Danke."

„Er scheint dich zu mögen. Und wieso stand sein Auto hier bei uns?"

Ohne meinem Dad in die Augen zu schauen suche ich nach einer brauchbaren Ausrede. Ich werde ihm nicht erzählen, dass Liam hier betrunken vor der Haustür stand.

„Er war bei einem Kumpel hier in der Straße und ist mit Mabels Freund zurück nach Hause gefahren. Er hatte seine Schlüssel bei dem Kumpel vergessen und er hat sie mir gestern Nacht noch vorbei gebracht, weil er heute den ganzen Tag weg ist", fasle ich wie am Band hinunter und stehe wieder auf.

„Verstehe. Hast du Hunger?"

„Hast du wieder deine berühmte Bratkartoffelpfanne gemacht?" Er nickt stolz und ich schaufle mir eine ordentliche Portion auf einen sauberen Teller ein.

-Weil ich es dir nicht sagen konnte-Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt