Nach dem Unterricht hatten sich Lian und ich auf sein Zimmer verzogen. Alle Lernräume waren ziemlich voll. An diesem Montag mussten wohl die meisten Schüler von Motivation gepackt worden sein. Selbst im Lernraum ganz hinten, waren nur noch zwei Plätze übrig gewesen. Vielleicht hätten wir die sogar genommen. Aber die restlichen Schüler, die in diesem Raum gesessen hatten, waren ziemlich laut gewesen und wir brauchten für unsere Aufgaben Ruhe. Lian musste lernen und ich weiter an meiner Hausarbeit schreiben. Da waren gesprächige Sitznachbarn nicht gerade förderlich.
Ich war froh, dass wir in sein Zimmer gehen konnten, denn in meinem wuselte Ginger aufgeregt durch die Gegend und packte ihre Sachen, für ein anscheinend sehr großes Event, zusammen. Sie hatte mir nicht verraten wollen wo sie hinging, aber um ehrlich zu sein interessierte es mich auch nicht besonders.
Konkrete Kristall- und Edelsteinkombinationen also. Ich war froh, dass der Lehrer uns bis zur Abgabe dieser Hausarbeit seine Stunden zur Verfügung stellte, damit wir daran arbeiten konnten. Während wir die erste halbe Stunde ein wenig im Stoff weitergemacht hatten, hatten wir die letzte Stunde vollkommen für die Hausarbeit bekommen. Ich hatte also das Thema: Die Möglichkeiten von Gittermagie, endlich abschließen können. Jetzt musste ich jedoch mit dem nächsten Thema weitermachen: Konkrete Kristall- und Edelsteinkombinationen. Das war ein sehr aufwendiges Thema. Denn es gab eine Menge vorgegebener Kombinationen und ich musste mir jetzt überlegen wie ich die alle in meine Hausarbeit packen sollte, ohne dabei den Rahmen zu sprengen.
Ich klappte den Laptop auf, den ich von der Schule ausgeliehen bekommen hatte und versuchte mich in das Thema zu finden. Nach vier Blöcken war mein Kopf eigentlich ziemlich matsch. Mein letzter Unterricht war der Elemente Kurs gewesen. Somit auch nicht unbedingt etwas Leichtes. Ich war eigentlich ziemlich KO und hätte Lian nicht so konzentriert über seinem Lernstoff gehangen, hätte ich die Hausarbeit wahrscheinlich auf den nächsten Tag geschoben. Immerhin hatte ich heute mein zweites Thema beendet.
Aber es half ja alles nichts und dieser Aufsatz musste fertig werden. Ich suchte also in meinem Lehrbuch nach der ersten Seite über bestimmte Kristallkombinationen und begann mit dem Lesen. Als ich etwa die Hälfte dieses Kapitels durchgelesen hatte, kam ich auf eine Idee. Nie im Leben würde ich alle Kristall- und Edelsteinkombinationen in meinen Aufsatz bekommen. Dafür gab es einfach zu viele. Aber ich könnte auf jede Kategorie eingehen. Es gab Kombinationen, die beim Finden der großen Liebe halfen, bei der Suche nach der Wahrheit, beim Lösen von negativen Personen im eigenen Umfeld und noch viele mehr. Ich begann mich also durch die Weiten der Kirstall- und Edelsteinkombinationen zu wühlen und schrieb erst einmal alle Kategorien auf, die ich in diesem Lehrbuch finden konnte. Das waren genau zehn und ich beschloss, dass ich pro Kategorie zwei Beispiele bringen wollte. Das würde reichen. Somit beanspruchte dieses Kapitel nicht ansatzweise so viel Zeit, wie ich angenommen hatte.
Also ich bei der vorletzten Kategorie angekommen war, riss mich Lian aus der Konzentration. Manchmal hatte er den Tick, unaufhörlich mit seinem Stift zu klicken. Er ließ die Mine seines Kugelschreibers immer wieder einfahren und schob sie dann wieder raus. Hin und her, hin und her. Das Klicken, das sich dabei ergab, war eigentlich nicht laut, trotzdem riss es mich so aus der Konzentration, dass ich nicht anders konnte, als seinen Finger anzustarren, der die Mine immer wieder rausdrückte und dann einfahren ließ.
Ich spürte wie mich dieses Geräusch zu nerven anfing. Aber ich sagte nichts. Lian war wahrscheinlich hochkonzentriert und merkte nicht einmal, dass er das machte. Außerdem war es nicht nur der Stift, der mich unaufmerksam werden ließ. Die Hausarbeit verabschiedete sich schnell aus meinen Gedanken und stattdessen trat plötzlich und ohne dass ich auch nur im Ansatz darüber nachgedacht hätte, die Gestalt aus dem Film in meine Erinnerung.
Ich sah sie vor meinem inneren Auge. Sie ließ mich innerlich zusammenzucken. Lian hatte gesagt, dass ich sie einfach beiseite schieben sollte. Aber das hatte beim letzten Mal nicht funktioniert. Also ließ ich meine Gedanken dieses Mal zu. Ich ließ zu, dass sie mir direkt in die Augen starrte und ich wartete was passieren würde. Falls meine Vorstellung sie real machen würde, dann würde Lian sie auch sehen und dann würde er mir helfen. Dann wäre das der Beweis dafür, dass sie nur meiner Vorstellung entsprungen war. Falls nicht...
Ich erstarrte, als mein Blick auf den Spiegel fiel. Darin sah ich plötzlich dieses Mädchen. Das war nicht mehr nur meine Erinnerung an sie, nein sie stand dort wirklich. Und sie sah mich an, sie blickte mir direkt in die Augen, direkt in die Seele. Trief nasse, schwarze Haare, grüne, stechende Augen, die mich anstarrten und mir jede Möglichkeit nahmen, mich regen zu können. Ihr Lächeln wurde breit, unecht breit, als würde ihr Mund jede Sekunde zerreißen. Ich schluckte, hielt den Atem an. Das war nicht real? Dieses Mädchen war nicht real? Doch das war sie, ich wusste es! Plötzlich streckte sie mir die Hand entgegen.
Sie tat so als würde sie meinen Kopf streicheln. So verrückt es auch klingen mochte, ich spürte ihre Berührung. Obwohl sie nicht neben mir stand, obwohl sie nur im Spiegel zu existieren schien. Ich spürte ihre dürren, kratzigen Finger auf meinen Haaren.
Ihre Hand wanderte weiter, meine Wange hinunter, bis zu meinem Hals. Ich wollte schreien, ich wollte Lian zeigen was ich sah, aber meine Stimme gab es nicht mehr. Ich war weder in der Lage mich zu bewegen, noch irgendeinen Ton über meine Lippen zu bringen. Lian bekam von all dem nichts mit. Er hing über seinen Lernzetteln und hatte keine Ahnung.
Die kalten Finger wanderten zu meinem Mund. Sie legten sich über meine Lippen, verboten mir jeden Laut. Nur langsam ließ sie ihre knochigen Finger zu meinem Hals wandern. Dürre, zerbrechlich erscheinende Finger, mit der Kraft eines Untiers, legte sich an meinen Hals und drückten zu. Panik stieg in mir auf. Diese Gestalt würde mich umbringen! Hier neben Lian und ich könnte nichts dagegen tun. Ich versuchte sie mit meinen Augen anzuflehen. Ich wollte um Gnade winseln. Aber ihre Augen fixierten mich so starr, dass ich keine Chance hatte. Ich war ihr ausgeliefert.
Im Augenwinkel sah ich, wie sich Lian zu regen begann. Der Druck um meinem Hals löste sich, die Gestalt befreite sich aus dem Spiegel und plötzlich kam sie auf mich zu. So schnell, dass ich nicht reagieren konnte. Ihr Gesicht stoppte vor meinem. Leere, finstere, böse Augen starrten mir entgegen. Der Schock saß tief, so tief, dass er mich endlich dazu befähigte etwas zu tun. Ich schrie, laut und energisch. Dann kniff ich die Augen zusammen und schlug um mich. Ein schriller Ton erklang und ließ mein Herz für einen Moment aussetzen.
Ich bekam das Mädchen nicht zu fassen. Als ich die Augen wieder öffnete, war sie längst verschwunden. Aber nicht alles von ihr. Der durchdringende, böse Blick blieb. Angst überkam mich, pure Panik, denn das stechende Grün ihrer Augen wollte nicht mehr aus meiner Erinnerung verschwinden. Mehr sogar, plötzlich glaubte ich das Grün dieser Augen zu kennen. Es war nicht ihr Grün, das Grün gehört jemand anderes. Mir fiel nur einfach nicht ein, wem.
Wieder lautes Schrillen. Ich sprang vom Bett auf und ließ noch einen Schrei los. Lian war auch von seinem Stuhl aufgesprungen und sah mich verwirrt an. Jedoch jederzeit bereit zu handeln.
„Was ist?", fragte er laut. Wieder dieses schrille Geräusch. Ich machte einen Satz zur Seite und begriff im gleichen Moment, dass es mein Handy war, das dieses Geräusch von sich gab. Schnell holte ich es aus meiner Tasche und las den Namen meines Anrufers. Connor. Connor? Connor! Wir waren heute Abend zum telefonieren verabredet.
„Sorry, habe mich nur erschrocken", keuchte ich und verließ Lians Zimmer, ohne weitere Erklärungen. Hinter seiner Tür blieb ich stehen und nahm tiefe Atemzüge, bevor ich den Anruf entgegennahm.
DU LIEST GERADE
Magie oder Schicksal? (3.Teil)
Spiritual1. Teil: Zufall ode Magie? Sam hat den Sprung ins Ungewisse gewagt. Alleingelassen macht sie sich auf den Weg zum Schwarzen Orden. Doch ist der Schwarze Orden das Richtige für sie? Wird sie Andere von den bösen Machenschaften Janine's überzeugen und...